Prof. Dr. Heinz Theisen

Politikwissenschaftler

Zivilisierung und Rekultivierung

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Die säkulare westliche Kultur wird sowohl von weltfremden Ersatzreligionen als auch vom Islamismus angefochten. Eine Säkularisierung 2.0 müsste Religion, Politik und moderne Funktionssysteme wieder trennen und miteinander ergänzen.

In der säkularen Unterscheidung von Religion und Politik und der daraus hervorgegangenen Ausdifferenzierung moderner Funktionssysteme liegt der Kern der westlichen Kultur, ihrer Vielfalt und Freiheit, die wiederum Voraussetzungen von Demokratie und wirtschaftlicher Entwicklung sind. Säkularität und Vielfalt werden vom Christentum bejaht. Sowohl im Jesus-Wort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ als auch in der Zwei-Reiche-Lehre von Augustinus wurden die geistigen Grundlagen für Säkularisierungsprozesse gelegt.

In den westlichen Staaten herrscht heute die säkulare Ordnung. Deren Ausprägungen reichen von einer engen Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat in Deutschland bis hin zur rigorosen Trennung beider im laizistischen Frankreich, in dem keine Ergänzung, sondern nur Koexistenz zwischen Religion und Politik möglich ist.

Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Ausprägungen entwickelten sich die westlichen Gesellschaften von der Säkularität zu einer Profanität, in der die Religionen kaum noch weltliche Angelegenheiten zu ergänzen vermögen. Dieses geistig-moralische Vakuum wird zugleich von humanitären Ersatzreligionen und vom Islamismus auszufüllen versucht, wobei erstere letzteres nicht zu stören scheint. Beide Strömungen könnten unterschiedlicher nicht sein, aber sie arbeiten beide gegen säkulare Ausdifferenzierung an.

Die Gottesgesetze der Scharia verlangen nicht weniger als die Unterordnung aller säkularen Gesetze unter das von Gott erlassene Recht. Dies ist inkompatibel mit der Demokratie, die daher im islamischen Kulturraum nur in Rumpfformen existieren. Der Islam ist wesensmäßig politisch und somit in eine säkulare Gesellschaft schwerlich integrierbar. Koexistenz ist möglich, solange die Hemisphären getrennt bleiben. Mit dem revolutionären Islam des Irans und des Islamischen Staates kommt es zur aktiven Ausdehnung, die nicht nur den Nahen Osten destabilisiert, sondern bereits nach Europa auszugreifen begonnen hat.

Die weltanschaulich merkwürdige Sympathie der postmodernen Linken selbst für radikale Varianten des Islams erklärt sich aus der gemeinsamen Gegnerschaft gegen den unvollkommenen bzw. unreinen Westen, der in der Tat weder den utopischen Ansprüchen diesseitiger noch jenseitiger Heilslehren gerecht zu werden vermag. Und aus der kulturmarxistischen Annahme, dass es immer Unterdrücker und Unterdrückte gibt, wobei die Überlegenheit des Westens ihm seine Rolle zuweist.

Die ersatzreligiöse Moral stellt sich über das Recht

Der Verlust der westlichen Dominanz erklärt sich auch aus dem Schwinden der spannungsreichen Ergänzungen zwischen „Ora et Labora“, Kirche und Staat, ideellen Kräften der Kultur und den institutionellen und materiellen Kräften der Zivilisation.

G. K. Chesterton sah die moderne Welt „voll von christlichen Tugenden, die verrückt geworden sind, weil sie voneinander getrennt wurden und nun alleine umherschweifen.“ In den politisierten Ersatzreligionen wird nicht mehr nach richtig und falsch, sondern nach Gut und Böse unterschieden, was die einst offenen Gesellschaften heillos polarisiert hat.

Selbst die Kirchen rücken vom Realismus der christlichen Soziallehre ab. Die Orientierung am Gemeinwohl, an Familie, Gesellschaft und Nation wird gegenüber der Gesinnungs- und Wohlfühlethik des Globalismus und von Mikro-Identitäten von Minderheiten aufgegeben. Der globale Humanitarismus erweist sich als Überbau für das entgrenzte Finanzkapital, von dem der ortsansässige bürgerliche Mittelstand - ideell wie materiell - in die Zange genommen wird.

Für die Sorgen der „weißen“ Arbeiterklasse bleibt bei postmodernen Dekonstruktivisten keine Aufmerksamkeit. Von der Energie- bis zur Asylpolitik setzen sich Haltung und Moral längst über bestehende Gesetze hinweg. „No Nation, no borders“. Die offenen Grenzen der Nationalstaaten und der Europäischen Union sind Konsequenzen einer autoaggressiven Selbstverleugnung, die zum Selbstopfer gegenüber „der Menschheit“ bereit zu sein scheint.

Lightkultur und Leitstruktur

Europa hat in seiner Geschichte Auswege aus religionspolitischen Verstrickungen gefunden: im Übergang vom Dreißigjährigen Konfessionskrieg zur Trennung von Staat und Kirche im 17. Jahrhundert, vom ersatzreligiösen Nationalismus zum Binnenmarkt der EU und von der kommunistischen Heilslehre zur entgrenzten Ökonomie. Allerdings müssen Kultur und Zivilisation nach den Transformationen neue Spannungsfelder aufbauen.

Der Vorschlag von Papst Benedikt XVI., die Zukunft des Christentums in seiner „Entweltlichung“ zu suchen, weist in diese Richtung. Darüber könnte das Christentum wieder zu sich finden und umgekehrt Politik wieder an Realitätssinn gewinnen. Ersatzreligiöse Hybride hingegen sind sowohl den meisten Gläubigen als auch politischen Realisten ein Gräuel.

Eine Rekultivierung Europas wird ohne neuerliche Trennung und anschließende Ergänzung von Kultur und Zivilisation kaum gelingen. Bloße Beschwörungen des „Abendlandes“ bleiben Nostalgie. Aber eine Art Kulturchristentum könnte als Beitrag zu einer Lightkultur einen ethischen Minimalkonsens auch mit Nichtgläubigen aufzubauen helfen: eine Orientierung am Naturrecht und Gemeinwohl sowie an gewachsenen Traditionen wäre mit den Idealen von Nachhaltigkeit und Solidarität grün-konservativer und links-humanitärer Ideale gut vereinbar.

Im Nahen Osten wollen Israel und autoritäre arabische Regime gemeinsam dem revolutionären Islam die Stirn bieten. Saudi-Arabien hat von der Unterstützung islamistischer Bewegungen Abstand genommen. In den neuen Abkommen zwischen einigen arabischen Staaten und Israel gelten etwa nicht mehr religiöse Besitzverhältnisse in Ost-Jerusalem und nicht einmal mehr ein palästinensischer Nationalstaat als vorrangig. Die alten religionspolitischen Verstrickungen spielen gegenüber der Notwendigkeit von Kompetenznetzwerken keine große Rolle mehr.

Die in den Verträgen anvisierte Zusammenarbeit bei Landwirtschaft, Forschung, Tourismus und Terrorbekämpfung richtet sich vor allem auf den Aufbau gemeinsamer zivilisatorischer Projekte - vom Kampf gegen Desertifikation bis zu Investitionen in die Digitalisierung, also zu Leitstrukturen der Zivilisation.

Wie die Hintergründe der Zivilisierungsprozesse in Europa zeigen, bedarf ein Paradigmenwandel meist einschneidender negativer Vorerfahrungen. In diesem Sinne lassen sich auch aus dem fatalen Zusammenfallen von ersatzreligiösem Schwärmertum und revolutionärem Eroberertum Hoffnungen auf Lernerfahrungen ableiten.

Viele junge Muslime wollen ihre Anschlussfähigkeit und Teilhabe an den globalen Produkt- und Wissensströmen mit der Bewahrung ihrer eigenen kulturellen Identität verbinden. Eine Schlüsselrolle kommt den sich allmählich emanzipierenden Frauen zu. Die Imperative einer wissensbasierten Wirtschaft passen nicht zu einer Unterwerfung unter patriarchale Werte und Strukturen. Westliche Genderaktivistinnen fänden hier große Felder für Hilfsprojekte vor. Im postmodernen Westen bahnt sich umgekehrt eine neue Wertschätzung selbst konservativer Identitäten an, die wieder sittlichen Ernst, Familiensinn und traditionelle Orientierungen respektieren.

In die kulturellen Auflösungsprozesse Europa hinein können sich Migranten schlecht integrieren. Sie bestehen trotz des Wunsches nach Teilhabe an der Zivilisation auf ihre kulturelle Identität. Wenn dabei ein revolutionärer Islam Säkularität, Individualität und Freiheitlichkeit offensiv bekämpft, ist die Zeit für Unvereinbarkeitsbeschlüsse gekommen. Als kulturelle Voraussetzungen unserer Zivilisation sind die modernen liberalen Werte so unverzichtbar wie umgekehrt konservative Werte zur Bewahrung der sich ansonsten in Profanität und Globalität auflösenden westlichen Kultur.