Prof. Dr. Heinz Theisen

Politikwissenschaftler

Vorlesungsskript - Willensbildung in der Zivilgesellschaft

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Heinz Theisen

 

 

         Willensbildung in der Zivilgesellschaft

     

 

 

  1. Rolle und Aufgaben der Verbände in Deutschland

 

 Verbände als Voraussetzung einer Zivilgesellschaft  3

 

  Herrschaft der Verbände?                                        4

 

  Kooperation und Korruption                                     6

 

  Adressaten der Verbände                                         7

 

  Mittel der Einflussnahme                                          8

 

  Gewerkschaften in Deutschland                                9

 

  Verbände im Gesundheitswesen                               11

 

 

  1. Rolle und Aufgaben der Verbände in Europa 13

 

   Verbände in der Europäischen Union                        16

 

   Vom Populismus zurück zur Bürgergesellschaft        17

 

   Soziale Marktwirtschaft als Kern Europas                  19

 

   An den Rändern der EU. Zivilgesellschaft statt Clankultur 23

 

 

 

 

 

 

  1. Rolle und Aufgaben der Verbände in Deutschland

 

Verbände werden in der Fachliteratur meist darauf hin befragt, ob sie zu viel Macht zugunsten von Partikularinteressen ausüben. Das  Stichwort von der „Herrschaft der Verbände“ dominierte jahrelang die Diskussion. Wir wollen deshalb die Adressaten, Mittel und Möglichkeiten der Verbände in Deutschland analysieren, insbesondere bei Gewerkschaften und bei Verbänden im Gesundheitswesen.

 

Das Wirken der Verbände ist oft problematisch. Noch problematischer ist es, wo die meist national organisierten Verbände angesichts zunehmender Individualisierung, Ausdifferenzierung und Globalisierung nur noch geringe Wirkung entfalten. Auch die derzeitige Politik in Deutschland nimmt oft wenig Rücksicht auf Verbändeinteressen, sie reagiert eher technokratisch, d.h. ohne Konzept und opportunistisch auf die wechselnden Ereignisse. Die etablierten Interessen von Berufsgruppen etwa im Bildungs- und Gesundbereich, aber auch die Interessen der einst so mächtig scheinenden Kernkraftindustrie spielen gegenüber den Stimmungen und Aufregungen in den Massenmedien eine untergeordnete Rolle.

 

Die populistischen Reaktionen, die europaweit auftauchen, stellen dem wiederum konzeptionslos Ängste und Ressentiments entgegen.  Populismus wird hier als Reaktion auf den Verlust bürgerlicher Sicherheiten und den drohenden Verlust der Gegenseitigkeiten in der Sozialen Marktwirtschaft gedeutet. Bis zu 20 Prozent der Bürger  scheinen sich nicht mehr in den etablierten zivilgesellschaftlichen Strukturen wiederzufinden.

 

An den Rändern Europas dominieren eher Clankulturen die Szene, so dass wir hier noch weit von zivilgesellschaftlichen Entwicklungen entfernt sind. Der Kulturalismus, der schon in Südosteuropa und auch in der Ukraine mit engen Identitäten gerade demokratische Strukturen durchdringt, könnte nur über Zusammenschlüsse von Bürgern überwunden werden, die an universelleren gesellschaftlichen Interessen und Idealen orientiert sind.

 

 

Verbände als Voraussetzung der Zivilgesellschaft

 

Eine Demokratie kann nicht ohne den Unterbau einer sich aus bürgerlichen Vereinen und Verbänden speisenden Zivilgesellschaft gelingen. Die Zivilgesellschaft ist der Teil der Gesellschaft zwischen Familie und Staat, in dem die Motivationen für Verbindungen, Initiativen und Handlungen freiwilliger Natur sind. Sie ist das Gegenteil zu Autoritarismus und Gewaltherrschaft.

 

Die wichtigsten Merkmale der Verbände sind:

 

1. Sie repräsentieren die gesellschaftliche Vielfalt.

 

2. Sie bündeln wie die Parteien in sich bereits eine Vielzahl heterogener Forderungen zu einheitlichen verbandspolitischen Zielen. Der Verband ist stets auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner innerhalb seiner Organisation, die er dann nach außen vertreten kann.

 

3. Mit dieser Filterfunktion vertreten sie in der Regel diejenigen Interessen, die realistisch durchsetzbar sind. Extreme Positionen werden weggefiltert, damit allerdings auch Minderheitspositionen.

 

4. Sie tragen zum Kommunikationsfluss zwischen Staat und Gesellschaft bei. Für staatliche Instanzen schafft die Artikulation von Interessen erst die Möglichkeit, Ordnungs- und Verteilungsgerechtigkeit zu fördern.

 

5. Verbände bilden mit Parteien und Kirchen eine dritte Form politischer Integration. Sie bauen das Individuum in die Vermittlungsprozesse ein und verdeutlichen ihm die Komplexität der Politik. Sie sind Mittel der politischen Partizipation, für Kommunikation und Information. Sie sind Transmissionsriemen zwischen Individuum und Staat.

 

6. Im Wirtschafts- und Gesundheitssektor hat der Staat viele Aufgaben an Kammern und Verbände delegiert und entlastet sich von kostenintensiven Aufgaben der Selbstregulierung.

 

7. Sie ermöglichen es, auch abseits der Wahlurne auf die Formulierung von Politik Einfluss zu nehmen. 

 

In Deutschland sind 25 Prozent der Bevölkerung in Berufsverbänden und Gewerkschaften organisiert und immerhin 67 Prozent in den sonstigen Verbänden. Verbände bieten ein enormes Engagementpotential. Bürger, die das Ansinnen, sich in Parteien zu organisieren, entsetzt abwehren, können auf die Fülle der Verbände zurückgreifen - oder selbst einen Verband gründen. Es genügen sieben Personen, um sich beim Amtsgericht als Verband registrieren zu lassen. Sofern sie als gemeinnützig anerkannt werden, können sie steuerabzugsfähige Spenden  einwerben.

 

Die rechtliche Einordnung der Verbände ist einfach. Sie berufen sich auf den Art. 9 GG, der das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, Gründungsfreiheit und Koalitionsfreiheit für alle Berufe und Vereinigungsfreiheit garantiert. Es gibt kein eigenes Verbändegesetz. In der Regel haben Verbände die Rechtsform eines eingetragenen Vereins (e.V). Vereine und Verbände gehen ineinander über. Vereine agieren auf der lokalen Ebene und Verbände als Zusammenschluss von Vereinen auf der überregionalen Ebene. Das Recht der Vereinigungen ist im Vereinsrecht des BGB geregelt. Das BGB enthält im den §21 bis 79 eine Vielzahl von Vorschriften zu Aufbau, Gliederung und Mitgliedsrechten. Verbände müssen einen gewählten Vorstand und eine Satzung haben, für deren Änderung eine Dreiviertelmehrheit nötig ist.

 

Herrschaft der Verbände?

 

In Deutschland gibt es etwa rund 4000 bundesweit tätige Verbände. In der aktuellen Verbändeliste des Deutschen Bundestages sind 2128 Verbände registriert, von A wie ABDA (Bundesvereinigung der Apothekerverbände) bis Z wie ZIV (Industrieverband für Zweiräder).

 

Zwei Drittel der Verbände vertreten Wirtschaftsinteressen, woraus Asymmetrien in der Willensbildung erwachsen. Um die finanzielle Ungleichheit zwischen weltweit agierenden Konzernen und den Bürgerverbänden auszugleichen, erhält etwa der „Bundesverband der Verbraucherschutzzentralen“ vom Bundesministerium für Verbraucherschutz 8,7 Millionen Euro jährlich. Die Verbraucherschützer werden von Ministerien stark angefragt und sehen sich „auf Augenhöhe mit den Wirtschaftsverbänden“.[1] 

 

Die Verbändeszene reicht von der Durchsetzung von Eigeninteressen bis zum Engagement für Menschenrechte.[2] Es existiert ein breites Segment von Vereinen und Verbänden, die auf Gemeinnützigkeit angelegt sind. Kammern und Kirchen fühlen sich primär dem Gemeinwohl verpflichtet. Es gibt zudem advokatorische und international agierende Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder Transparency International, ein Verband, der sich der Korruptionsbekämpfung widmet.

 

Eine Ausweitung des Verbandswesens erkennen wir in den Public-Affairs-Firmen, die Unternehmensberatung, Politikberatung und Public Relation als Angebotspalette verbinden. Eigentlich müssten sich Unternehmen, PR-Firmen und Rechtsanwaltskanzleien, die die Interessen Dritter wahrnehmen, auch als Interessenverbände registrieren lassen. So fordert es jedenfalls der Lobbykritische Verband LobbyControl, der für mehr Transparenz unter den Verbänden kämpft.[3]

 

Verbände können wir grob danach unterscheiden, ob sie als „Pressure Group“ Eigeninteressen akzentuieren oder ob sie ideelle Ziele verfolgen. Oft sind die Übergänge fließend. Als Berufsverbände, Religionsgemeinschaften, Rotarier und Gewerkschaften repräsentieren sie ganz unterschiedliche Aufgaben und Interessen. Die Philosophie der pluralistischen Gesellschaft setzt darauf, dass sich diese Vielfalt und Unterschiedlichkeit wechselseitig begrenzt und ergänzt. Bei dieser Hoffnung handelt es sich natürlich um eine regulative Idee, die sich oft genug an den Asymmetrien der Macht bricht. Die Vielfalt verhindert aber eine reine Dominanz der Wirtschaftsverbände und trägt zu den Gegenseitigkeiten der Sozialen Marktwirtschaft bei.

 

Kooperation und Korruption

 

In einem sozialmarktwirtschaftlichen System ist die Kooperation zwischen Staat und Markt, Staat und Kirche oder Staat und Wohlfahrtsverbänden erwünscht. Sie findet ihren Niederschlag auch in staatlichen Transferzahlungen. Problematisch wird dies, wenn sich die Interessen bis zur Unkenntlichkeit vermischen.

 

Die Vernetzung droht in Verstrickung, letztlich sogar in Korruption umzuschlagen, wenn die Akteure ihren spezifischen Auftrag vergessen. Der Grat zwischen Vernetzung und Verstrickung ist schmal, und so mancher ist auf ihm schon abgestürzt. Im Fall Wulff kann man endlos streiten, ob seine Nähe zur Filmwirtschaft zu groß war. Als anstößig gilt es auch, wenn ein Bundeskanzler nach seiner Amtszeit umgehend zu Gasprom oder ein Ministerpräsident zu einem Baukonzern wechselt, dem er vorher Aufträge zubilligte. Lobbycontrol fordert daher eine dreijährige Karenzzeit für Politiker, bevor sie in die Wirtschaft wechseln dürfen.

 

Die Kernfrage an das Verbandswesen bleibt, ob das Gemeinwohl Einzelinteressen zum Opfer fällt. Dieses Spannungsverhältnis gehört zu den klassischen Themen der politischen Theorie. Eine Zeitlang glaubten wir, die Lösung des Dilemmas gefunden zu haben, indem das Gemeinwohl mit der Summe aller gut organisierten Interessen gleichgesetzt wurde. Im Ergebnis bedeutete dies - in nahezu allen Demokratien – eine Staatsverschuldung, die die Rechte künftiger Generationen mindert.

 

Hierbei handelt es sich um eine Art gegenseitiger Korruption der Akteure der Gegenwart auf Kosten der Zukunft. Ihre  Zukunftsfähigkeit wird durch die zunehmende „Fragmentierung“ demokratischer Systeme weiter in Frage gestellt. Die Staatsverschuldung korreliert europaweit mit der Zahl der Parteien und Verbände, die um öffentliche Gelder für ihre jeweilige Klientel konkurrieren. Schon jeder Abgeordnete versucht, möglichst viele öffentliche Gelder und Projekte in seinen Wahlkreis zu lenken, weil sich deren Kosten auf die Gesamtheit verteilen lassen.

 

Adressaten der Verbände

 

Der Begriff Lobby entstammt der Vor- und Wandelhalle im Britischen Parlament. Lobbyisten „unterwandern die parlamentarische Demokratie“, so heißt ein Buchuntertitel zur „fünften Gewalt“ im Staat.

 

Für Mitarbeiter der Verbände reicht die Unterschrift von fünf Bundestagsabgeordneten oder eines Fraktionsvorsitzenden, um einen Hausausweis im Bundestag zu bekommen.[4] Dieser offene Lobbyismus ist immer noch besser als eine „Schattenpolitik“ der geheimen Kassen und Spenden.

 

Der wichtigste Ansprechpartner der Verbände ist die Regierung und ihre Verwaltung, weil hier die meisten Gesetze vorbereitet werden. Verbände werden heute schon in der Phase des Referentenentwurfs einbezogen. Man will auf ihr spezifisches Sachwissen nicht verzichten und zudem schon im Vorfeld sondieren, was geht und was nicht. Ihre Vertreter sitzen oft beratend und mitarbeitend in der Ministerialverwaltung, worüber sie zu einem  Teil der Regierung werden.

 

Die Ursache dieser Kooptation liegt oft darin, dass die staatlichen Organe es nicht selbst können. So mussten nach den Weltfinanzkrise Banker in das Finanzministerium gerufen werden, um die notwendigen Regulierungen auf den Weg zu bringen. Die Verursacher der Krise wurden darüber zu ihren eigenen Kontrolleuren. Die stetige Schwächung des Staates durch Deregulierungen und Stellenkürzungen hat ihren Preis.

 

Medien beeinflussen die öffentliche Meinung und damit die Politiker. Dementsprechend versuchen Verbände, deren Aufmerksamkeit zu gewinnen.  

 

Parteien leiten die Interessen von Verbänden an Parlamente und Regierungen weiter. Die personellen Verflechtungen zwischen Verbänden und Parteien sind oft fließend. Verbandsmitarbeiter werden Abgeordnete und ehemalige Abgeordnete und Minister Verbandspräsidenten.  

 

Mittel der Einflussnahme

 

Die wichtigsten Mittel- und Methoden der Verbandsarbeit sind

 

  • personelle Verflechtung

 

  • Wählerstimmen

 

  • Geld

 

  • Sachverstand

 

  • Bestechung (Spenden)

 

  • Kommunikation und Information.

 

Die unterschiedliche Durchsetzbarkeit von Interessen resultiert vor allem aus der unterschiedlichen Organisierbarkeit von Interessen. Viele Lobbyisten müssen sich sogar darauf beschränken, Politik nur zu beobachten und zu kommentieren. Ihre Hauptaufgabe ist das „Monitoring“, die Informationsarbeit für ihre Mitglieder.

 

Gut organisierbar sind abgrenzbare Interessen, deren gezielte Vertretung auch unmittelbaren Gewinn verspricht. Unterschiedliche Macht ergibt sich zudem aus

 

  •     dem Organisationsgrad. Je mehr Mitglieder ein Verband hat, desto stärker und glaubwürdiger kann er Interessen vertreten.

 

  •    der Mobilisierbarkeit. Streikaufrufe finden je nach den Berufen eine unterschiedliche Resonanz bei den Mitgliedern. Gerade  massenhafte Interessen leiden oft unter ihrer Schwerorganisierbarkeit. Mütter und Hausfrauen sind aus ihrer räumlichen Situation heraus kaum und Studenten sind allenfalls noch über Facebook organisierbar.

 

  •  der Störfähigkeit. Sie ist bei Ärzten paradoxerweise besonders gering, weil deren Streiks schon aus ethischen Motiven kaum Akzeptanz finden. Kassenärzte dürfen zudem wie die Beamten nicht streiken, was viele Irrwege im Bildungssystem erklärt.

 

Gewerkschaften in Deutschland 

 

Unter „Korporatismus“ versteht man vor allem die Zusammenarbeit von Staat, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften. Der Staat bezieht hierbei besonders betroffene und einflussreiche Interessengruppen direkt in den politischen Entscheidungsprozess ein. Damit werden aber andere Gruppen wie die Arbeitslosen diskriminiert, die keine vergleichbare Bedeutung haben.

 

Durch Europäisierung und Globalisierung sinkt der Einfluss von den national organisierten Verbänden. Auf die Verhandlungen im Welthandel haben national organisierte Gewerkschaften keinen großen Einfluss. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder schrumpfte zwischen 1996 und 2005 von knapp 9 Millionen auf 6,78 Millionen. Die alte Strategie „mehr Lohn, mehr Urlaub, mehr Rente“ war auf viele Arbeitnehmer negativ zurückgefallen. Die Lohnerhöhungen wurden von den Sozialabgaben wieder aufgezehrt. Hohe Löhne hatten zudem zur Abwanderung von Arbeitgebern ins Ausland beigetragen. Viele Arbeitnehmer verstehen sich als Einzelkämpfer.

 

Die Gewerkschaften waren gezwungen, sich neu zu erfinden. Vor allem die Industriegewerkschaften haben gemeinsam mit den Arbeitgebern versucht, Arbeitsplätze zu retten: Tarifliche Regelungen über Kurzarbeit, ins Minus laufende Arbeitszeitkonten, Nullrunden sind nur einige Stichworte.  

 

Deutschland verdankt es auch dieser Tarifpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, dass es heute besser dasteht als die meisten europäischen Länder. Die Gewerkschaften haben mit Lohnzurückhaltungen dazu beigetragen, dass die deutsche Industrie ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen konnte. Mit Öffnungsklauseln im Flächentarifvertrag haben sie Flexibilität zugelassen.

 

Früher kämpften die Gewerkschaften für große Berufsgruppen. Heute geht der Trend zur Aufsplitterung berufsständischer Sonderinteressen. Selbst innerhalb der Branchen zersplittern sich die Tarifordnungen. Im öffentlichen Dienst gibt es den alten BAT, den neuen TVöD (Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst), lokale Sondervereinbarungen, neue Niedriglohngruppen, Tarife privater Branchen und sogar Einzelvereinbarungen. Ähnliche Risse gibt es in der Wirtschaft, verursacht durch betriebliche Öffnungsklauseln, durch die Auslagerung von Betriebsteilen oder durch das Ausscheren von Firmen aus den Flächenvereinbarungen. Die tatsächliche Lohnentwicklung weicht oft weit von der tariflichen ab.

 

Der alte Flächentarifvertrag hatte dafür für mehr Beständigkeit gesorgt. Unternehmer fürchten heute so genannte Guerilla-Streiks von Splittergewerkschaften mehr als zu hohe Lohnabschlüsse. Guerilla-Streiks von Einzelgruppen - wie unlängst der Lufthansapiloten - können mit kleinen Mitteln große wirtschaftliche Schäden anrichten.

 

Ungeklärt bleibt das Verhältnis der Gewerkschaften zum Prekariat. Arbeitslose, Saisonarbeiter und viele unqualifizierte Arbeiter werden als Prekariat bezeichnet, weil sie in „prekären Lebensverhältnissen“ leben. Sie werden oft nicht mehr ausgebeutet, sondern überhaupt nicht mehr gebraucht.

 

Ungeklärt ist auch das Verhältnis der Gewerkschaften zu Bildung und Ausbildung. Mehr als die Hälfte der Schulabgänger in Deutschland erlernt ihren Beruf noch im dualen System. Die geringere Zahl akademischer Abschlüsse und die höhere Zahl der beruflichen Ausbildungen tragen dazu bei, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland nur bei neun Prozent liegt, in Großbritannien dagegen bei 20, in Frankreich bei 23, in Italien bei 28 und in Spanien bei über 40 Prozent.

 

Spätestens der Mangel an Auszubildenden, der in Handwerksberufen schon eingesetzt hat, sollte die Gewerkschaften veranlassen, sich der  Akademisierung von immer mehr Berufen entgegenzustellen. Ein Blick in angelsächsische Länder, in denen man entweder einen Bachelor oder keinen Abschluss erwirbt, zeigt die Überlegenheit der dualen Berufsausbildung.

 

Verbände dienen auch als Vertretungen der unterschiedlichen Funktionssysteme der Gesellschaft. Insbesondere die Berufsverbände sollten mehr auf die Integrität ihres Funktionssystems und auf die, gerade auf ihrer Ungleichheit beruhenden  Gegenseitigkeiten zwischen den Funktionssystemen achten. Diese werden durch die Wucherungen der Ökonomie in andere Funktionssysteme hinein in Frage gestellt. Die Wissenschaft ist fast schon zu einem Teilsystem der Ökonomie geworden. Darüber droht die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme und damit eine Grundlage von Freiheit und Dynamik beschädigt zu werden.

 

Die Technologie ist noch der leistungsfähigste Funktionssysteme, weil es – wiederum aus ökonomischen  Gründen – am meisten Freiheit zur Selbstentfaltung behalten hat. Legendär sind auch die politischen Einreden in die Humanwissenschaften, die mit Modethemen als Vorgaben für die Drittmittelforschungen, bei denen die Ergebnisse schon in der Überschrift stehen, und der Neuausrichtung von Lehrstühle auf Wünschenswertigkeiten (Gendermainstreaming) ganze Fachbereiche in den ideologischen Ruin und in die Irrelevanz getrieben haben.

 

 

 

Verbände im Gesundheitswesen

 

Das Gesundheitswesen ist umkämpft wie kein anderer Bereich der Politik. Es hat sich zu einem 300 Milliarden Euro schweren Wirtschaftszweig entwickelt. Im Gesundheitswesen verdienen mehr Menschen ihr Geld (4,9 Millionen) als etwa in der Autoindustrie (742.000).

 

Allein 200 Milliarden Euro verteilen die gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen in Deutschland an Ärzte, Apotheker, Pharmafirmen, Kliniken, Sanitätshäuser, Masseure, Reha-Zentren, Heilbäder und Labors. Das Besondere an diesem Markt ist, dass er zu einem erheblichen Teil staatlich reguliert wird. Vieles hängt von Gesetzen und Vorschriften ab.

 

In Washington hat die Pharma- und Medizinprodukte-Industrie zusammen mit der Ärzte-, Klinik- und Krankenversicherungslobby seit 1998 umgerechnet über vier Milliarden Euro für ihr Lobbying ausgegeben. Das ist viermal so viel, wie die Waffenindustrie im gleichen Zeitraum ausgegeben hat.

 

Für keinen Bereich im Gesundheitswesen geben die Kassen in Deutschland mehr aus als für die Kliniken: Im Jahr 2012 erhielten diese 62 Milliarden Euro, im Vergleich zu 28 Milliarden für Ärztehonorare und 29 Milliarden für Arzneimittel. Seit 2001 sind die Ausgaben für die Kliniken um 39 Prozent gestiegen. Der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, also der Kliniklobby, verfügt über 75 Mitarbeiter und ein Budget von neun Millionen Euro.

 

Auch die Apothekerlobby ist gut organisiert. Ihr Dachverband ABDA gilt unter Politikern als eine der effizientesten Interessenvertretungen. Dementsprechend haben Apotheker unter den gesetzlichen Veränderungen der letzten Jahre am wenigstens gelitten. Sie wollen die alte Zunftordnung aufrechterhalten. Sie konnten im Kampf gegen die Internetapotheke Doc Morris eine Novelle durchsetzen, die den Internetapotheken verbietet, mehr als ein Euro Rabatt zu gewähren. Dem Verband ist es gelungen, die Sparbeiträge der Apotheken auf symbolische Beträge zu reduzieren. [5]

 

Im Gesundheitswesen delegiert der Staat einen Teil seiner Aufgaben an Verbände. Darüber konnte sich die Selbstverwaltung des Gesundheitswesen entwickeln. Dreh- und Angelpunkt ist die gesetzliche Krankenversicherung GKV, die nach dem Prinzip der Selbstverwaltung organisiert ist. Ärzteverbände, Apotheker, Krankenhausträger und Pharmaindustrie können ihre Aufgaben im Rahmen der staatlichen Vorgaben autonom in Eigenverantwortung erledigen. Dieses Selbstverwaltungssystem gilt zudem für die Sozialversicherungen, für Renten-, Unfall-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung. Die jeweiligen Statusgruppen wirken an deren Selbstverwaltung mit.

 

In der Selbstverwaltung der GKV spielen Verbände verschiedenen Typs eine Rolle.[6] Die verschiedenen Kassenorganisationen dienen als Dachverbände ihrer angeschlossenen Krankenkassen. Sie bündeln die Interessen der verschiedenen Kassen und tragen zum    Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen bei.

 

Die Kammern sind öffentlich-rechtliche Körperschaften. Sie nehmen  eine halbamtliche Zwitterstellung ein, indem sie sowohl hoheitliche Funktionen im Auftrag des Staates wahrnehmen als auch als Interessenvertretung ihrer Mitglieder gegenüber der öffentlichen Hand fungieren. Ihnen obliegen auch hoheitliche Aufgaben wie die Definition beruflicher Bildungsstandards und die Abnahme von Prüfungen, zugleich die Aufgaben eine Interessenvertretung des Bezirks gegenüber dem Staat und der Interessenausgleich zwischen den Mitgliedern. 

 

Der quasi behördliche Status der Kammern kommt darin zum Ausdruck, dass sie exklusiv für ein bestimmtes Gebiet zuständig sind. Zudem herrscht hier die Pflichtmitgliedschaft der Angehörigen eines Berufsstandes. Die Mitglieder wählen ihren Vorstand, der die Kammern selbstständig leitet und dabei nur einer staatlichen Rechtsaufsicht untersteht. Ärzte, Zahnärzte und Apotheker verfügen über eigene Kammern.

 

  1. Rolle und Aufgaben der Verbände in Europa

 

Trotz der Unterschiede zwischen den nationalen Sozialpolitiken kann man von einer europäischen Sozialkultur sprechen. In allen europäischen Staaten herrschen Erwartungshaltungen breiter Bevölkerungskreise für sozialpolitische Maßnahmen und Leistungen vor. Die öffentlichen Ausgaben für Sozialleistungen sind in den westeuropäischen Ländern im Vergleich zu anderen Weltregionen beträchtlich. Die Ausgaben für soziale Sicherung liegen gemessen am Bruttoinlandsprodukt selbst in Südeuropa höher als beispielsweise in den USA, Kanada oder Japan. Die öffentlichen Systeme der sozialen Sicherheit sehen eine Absicherung gegen die größten Risiken wie Alter, Krankheit, Invalidität und Tod vor.

 

Es ist viel zu allgemein, von der „europäischen Integration“ zu sprechen, weil sich ihre unterschiedlichen Funktions- und Handlungsebenen unterschiedlich entwickeln. So ist der europäische Binnenmarkt eine Erfolgsgeschichte, der Euro nicht. Nachdem die Europäische Union die meisten Hürden für die Freizügigkeit von Waren, Kapital und Arbeit beseitigt hatte, entfaltete der europäische Binnenmarkt seine Dynamik. Die Osterweiterung aus dem Jahr 2004 hat dem wirtschaftlichen Wachstum weitere Impulse gegeben, die Südosteuropaerweiterung von 2007 (Rumänien, Bulgarien) ist kritischer zu betrachten.

 

Osteuropäische Mitgliedsländer sind aufgrund ihrer Kostenvorteile zu Wachstumsprofiteuren geworden und die Altmitglieder verfügen über einen Mix aus Hochqualitäts- und Niedriglohnstandorten. Westliche Firmen konnten Teile ihrer Vorproduktkette nach Osteuropa verlagern und darüber auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig bleiben. Zwei-Drittel des Zuwachses der deutschen Industrieproduktion seit Mitte der neunziger Jahre ist auf Outsourcing in Niedriglohnländer und nur ein Drittel auf einheimische Wertschöpfung zurückzuführen. Der Binnenmarkt ist die Ursache für die deutschen Exporterfolge in Europa.

 

Eine einheitliche Wirtschafts- und Finanzregierung, wie sie im Gefolge der Eurokrise oft gefordert wird, könnte die Besonderheiten der deutschen Wirtschaftskultur abschleifen. Die EU sollte sich stattdessen im Sinne einer Kernunion um die Länder konstituieren, die den Anforderungen und Strukturen der Sozialen Marktwirtschaft gerecht werden. Diese muss gegen Dumpingwettbewerb verteidigt werden und in Distanz zu denjenigen bleiben können, die den Sozialstaat überdehnen und überfordern.   

 

Die Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen steht in einem Spannungsverhältnis zu Traditionen und Kulturen der Nationalstaaten. Die mittelstandsfreundlichen Sparkassen und Genossenschaftsbanken in Deutschland, die Kreditfinanzierung für qualifizierte Existenzgründer und für Betriebserweiterungen sicherstellen, sind der EU-Kommission aufgrund „mangelnder Wettbewerbsgleichheit“ ein Dorn im Auge. Die mittelständische Wirtschaft ist ein Erfolgsgeheimnis der ökonomischen und gesellschaftlichen Stabilität in Deutschland. Das Lernen aus dem Best Practice setzt Unterschiedlichkeit voraus.

 

Eine Renationalisierung wäre nur ein Gegenextrem zu den Entgrenzungen und Überdehnungen der EU. Nationalismus und Protektionismus waren schon verhängnisvolle Fehlreaktionen auf die erste Globalisierung vor 1914. Um sowohl einem überdehnten Internationalismus als auch einem überdehnten Nationalismus zu entgehen, brauchen wir statt „Mehr“ oder „Weniger“ Europa eine  Ausgestaltung der spezifisch europäischen Mehrebenenpolitik. Es geht um einen besseren Ausgleich zwischen regionalen, nationalen und europäischen Handlungsebenen.

 

Das Subsidiaritätsprinzip, welches die Priorität und Selbstverantwortlichkeit der jeweils kleineren Einheit fordert, muss Priorität gegenüber einem zentralistischen Einheits- und Gleichheitsdenken erhalten. Ein solches Europa gliche mehr einem der Vielfalt verpflichteten Imperium (Föderation) als einem der Einheit verpflichteten  Nationalstaat. Viele halten es für einen Fehler, dass die EU dem Vorbild des Nationalstaates nacheifert.

 

Die Krise der EU liegt nicht zuletzt darin, dass sie das aus der Katholischen Soziallehre entstammende Subsidiaritätsprinzip faktisch ständig verletzt. Nach dem Subsidiaritätsprinzip wäre Erziehung Familiensache, Bildung Ländersache, Sozialpolitik bliebe eine nationalstaatliche Aufgabe. Die Einwanderungs-, Energie- und Sicherheitspolitik sollte dagegen im kontinentalen Rahmen gestaltet werden.

 

Verbände in der Europäischen Union 

 

Nach dem Lissabonner EU-Vertrag ist keine EU-Gesetzgebung mehr ohne die Zustimmung des Parlaments möglich. Mit der Bedeutung des Parlaments gewinnt auch das Verbandswesen an Einfluss. Seit den achtziger Jahren versammeln sich in Brüssel eine Vielzahl von Gruppen und Akteuren, die auf ihre Belange aufmerksam machen wollen.

 

Heute sind über 1000 europäische Verbände bei der Europäischen Kommission registriert. Hinzu kommen 350 nationale Verbände und Körperschaften, rund 250 Interessenvertretungen von Unternehmen sowie eine ebenso große Anzahl von professionellen Beratungsfirmen und Anwaltskanzleien. Eine Besonderheit ist der Wirtschafts- und Sozialrat der EU, in dem die wichtigsten Verbände zu einer Art beratenden Versammlung zusammengefasst sind. Dass dies kein Allheilmittel gegen Lobbyismus ist, beweisen die südeuropäischen Staaten, die ebenfalls solche Räte haben.

 

Heute sind bei der EU mehr als 20.000 Lobbyisten aktiv. Brüssel beherbergt die zweitgrößte Lobby-Industrie der Welt, die allerdings nur halb so groß ist wie die in Washington. Supranationale Verbands- und Lobbyarbeit ist ein Bestandteil der Interessenvertretung geworden. Derzeit wird vor allem über die Bedingungen des TIP gestritten, des Transatlantischen Freihandels- und Investitionsabkommen, dem größten Freihandelsabkommen, das die EU je angestrebt hat.

 

Während die einen sich davon einen Wachstumsschub, niedrigere Preise für die Verbraucher und neue Stellen erhoffen, befürchten die Umwelt- und Verbraucherverbände niedrigere Schutzstandards für Mensch und Umwelt und den Verlust von Arbeitsplätzen.

 

So genannte „Lobbyjäger“ in Brüssel erfassen, wie viele Gespräche die Generaldirektion Handel mit wem führt. 130 Gespräche seien 2013 geführt worden, davon 119 mit Industrieverbänden und nur elf mit Verbrauchergruppen. In diesem Jahr sollen die Vertreter der Zivilgesellschaft aufgeholt haben.

 

Das Europäische Parlament versucht der Dominanz der Wirtschaftsverbände entgegenzuwirken, indem es zum wichtigsten Partner und Förderer von Konsumenten und Umweltgruppen wurde. Bürgerverbände finanzieren sich zum großen Teil aus europäischen Mitteln. 60 Prozent von ihnen erhalten diese Unterstützung. Auch in der EU soll es keine unumschränkte „Herrschaft der Wirtschaftslobby“ geben.

 

Die Verbändelandschaft reicht in Brüssel von Wirtschaftsverbänden und Unternehmensvertretungen, Gewerkschaften, regionalen Interessengruppen, Umweltorganisationen, humanitären Einrichtungen und Verbraucherschutzorganisationen, bis hin zu Koalitionen zwischen diesen Kategorien. Auch hier wünschen wir uns, dass sich die vielen Interessen gegenseitig begrenzen und ergänzen.

 

Vom Populismus zurück zur Bürgergesellschaft 

 

So sicher die Globalisierung die Exportfähigkeit und damit die Chancen der Global Player steigert, so sicher bedrängt sie die Teile der Gesellschaft, die im weltweiten Wettbewerb nicht mithalten können. Je weniger die Parteien und Verbände sich deren Probleme annehmen, desto mehr treiben sie populistische Parteien und Bewegungen hervor. Deren Akteure sind kaum mehr in zivilgesellschaftlichen Verbänden organisiert. Die EU wird von ihnen nicht als Schutz vor der Globalisierung, sondern als Teil der Globalisierung wahrgenommen.

 

Bei der bevorstehenden Wahl zum Europäischen Parlament gehen Umfragen von bis zu 20 Prozent für so genannte populistische Parteien aus. Es ist interessant, diese erdrutschartige Veränderung der politischen Szenerie in Europa in eine Beziehung zu unserem Thema zu setzen. Mit der in den Medien üblichen Kennzeichnung dieser Erscheinungen als „rechtspopulistisch“ und der Abdrängung ins moralisch Unkorrekte scheint mir das Phänomen nicht hinreichend erklärt.

 

Es ist zunächst auffällig, dass die etwa zwanzig Prozent Populisten in Europa in etwa auch der Größe des so genannten Prekariats entsprechen, die nicht mehr in die Verbandsstrukturen eingebunden sind. Zwar gibt es in Deutschland einen „Verband der Arbeitslosen“, aber angesichts der Mittel, über die klassische Interessenverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihnen gegenüber verfügen, kann man sich vorstellen, wie einflussreich dieser ist.

 

Die Gewerkschaften und Berufsverbände kümmern sich lieber um die Mitglieder in festen Beschäftigungsverhältnissen. Sie haben die Anliegen der Populisten nie ernst genommen, sondern pädagogisch weg zu zensieren versucht. Die Populisten erheben aber keinen revolutionären Anspruch, sie wollen auch im Gegensatz zu Rechtsextremisten nicht die Gesellschaft oder die Demokratie beseitigen, sondern ihre Teilhabe an Gesellschaft und Wirtschaft gesichert wissen.

 

Die Teilhabe ist aber nicht zuletzt durch den grenzenlosen Wettbewerb gefährdet. Ein zu schneller Abbau von Grenzen, Zöllen und Handelshemmnissen droht den Begriff des Bürgers als Träger von Schutzrechten und Gemeinwohlpflichten aufzulösen. Noch vor dem Aufbau einer europäischen Gesellschaft wird auf diese Weise der soziale Zusammenhalt nationaler Gesellschaften abgebaut.[7] Darüber drohen Bürger zu Populisten zu werden.

 

Ein Wiederaufbau der Bürgergesellschaft erfordert mehr Arbeitsplätze für alle. Die demografische Situation verbessert die Lage für qualifizierte Arbeitskräfte. Der Mindestlohn wird die Lage für unqualifizierte Arbeitskräfte ebenso verschlechtern wie die Gleichmacherei im Schul- und Hochschulsystem. Eine größere  Akzeptanz von Ungleichheit wäre eine Voraussetzung für die Gegenseitigkeiten der Sozialen Marktwirtschaft.

 

Um aus Populisten wieder Bürger zu machen, sollte mehr in die Bildung von Bürgern investiert werden, was längst über bloße „politische Bildung“ hinausginge. An der Karlsruher Hochschule für Gestaltung werden neuerdings „Diplombürger“ ausgebildet. Alle Individuen seien unvermeidlich in fünf Lebensbereichen aktiv: als Bürger (von Institutionen), als Konsumenten (von Warenangeboten), als Patienten (von Gesundheitsdiensten), als Rezipienten (von Medien und Künsten) und als Gläubige (von religiösen Angeboten). Demnach werden dort Diplombürger, Diplomkonsumenten, Diplompatienten, Diplomrezipienten und Diplomgläubige ausgebildet.[8]

 

Soziale Marktwirtschaft als Kern Europas  

 

Europa verdankt seine besseren Epochen jenen vermittelnden und gemischten Programmen, die den öffentlichen und privaten Bereich, die Staat und Markt zu einer Sozialen Marktwirtschaft zu verbinden verstanden haben. Diese europäische Mitte zwischen dem sozialistischen „Zoo“ und dem kapitalistischen „Dschungel“ setzt an die Stelle des polarisierenden Entweder-oder das ausgleichende Sowohl-als-auch. Die jeweiligen Sichtweisen werden aus ihrer Einseitigkeit befreit und in einen ergänzenden Zusammenhang gestellt. Dem komplementären Sowohl-als-auch der Sozialen Marktwirtschaft war es gelungen, die klassenkämpferische Polarisierung von Kapital und Arbeit zugunsten der Gegenseitigkeiten von Sozialpartnerschaften aufgehoben.

 

Die Originalität der Sozialen Marktwirtschaft lag nicht in einer spezifischen Idee, sondern in der wechselseitigen Ergänzung von zuvor als unvereinbar angesehenen Ideen. Die Soziale Marktwirtschaft beruht auf der regulativen Idee, Gegensätze in ein Ergänzungsverhältnis zu setzen. Sie übernahm vom Sozialismus die Betonung des Sozialen und die Würde der Arbeit, vom klassischen Liberalismus die Freiheit des Individuums und die Koordination dezentraler Entscheidungen durch den Markt, von der Katholischen Soziallehre die Unantastbarkeit der Person, das Subsidiaritätsprinzip und die Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums, von der Evangelischen Sozialethik das Berufsethos und die Sparsamkeit.

 

Die klassischen moralischen Gegenseitigkeiten der Sozialen Marktwirtschaft sind

 

  • Rechte und Pflichten,
  • Hilfe und Selbsthilfe,
  • Fördern und Fordern,

 

Strukturelle Gegenseitigkeiten zeigen sich zwischen  

 

  • Staat und Markt,
  • Wettbewerb und Kooperation,
  • Flexibilität und Sicherheit,
  • nationalen und supranationalen Institutionen.

 

   Zeitweise schien die Soziale Marktwirtschaft auch in Deutschland in Richtung einer überbordenden Sozialstaatlichkeit aus dem Ruder zu laufen. Um aus betreuten Menschen wieder Bürger zu machen, wurde in Deutschland in der Sozialpolitik eine Neuordnung der Gegenseitigkeiten zwischen Bürgern und Staat durchgesetzt. Der „aktivierende Staat“ wollte eine Mobilisierungs- statt einer Betreuungspolitik. Er betont präventive statt therapeutischer Instrumente. Öffentliche Transferleistungen werden mit Anreizen für eine Arbeitsaufnahme verbunden. Eine Sozialpolitik des „Förderns und Forderns“ beschränkt sich dementsprechend nicht mehr auf die anonyme Verwaltung und Auszahlung monetärer Transfers, sondern setzt beim Menschen selbst an.

 

   Unter den Bedingungen der anonymen Groß- und Weltgesellschaft, die durch tiefe Arbeitsteilung, ausdifferenzierte Funktionssysteme und anonyme Austauschprozesse gekennzeichnet ist, musste das traditionelle System sozialer Hilfe in die Kategorien von Vorteilen und Anreizen übersetzt werden. Die der modernen Gesellschaft angemessene Form der Moral ist die Anreizmoral.[9]

 

In der aktivierenden Sozialpolitik liegt aber auch der Unterschied zum Neoliberalismus. Wenn die Kürzungen sozialer Leistungen kein bloßes Einsparen auf Kosten von Schwachen sein soll, muss das Fordern auch mit zusätzlicher Förderung verbunden werden. Sparen kann man auf Kosten oder zugunsten der Zukunft.

 

Dieser neue Spagat von Staat und Bürgern ist in Deutschland, das zeigen die niedrigeren Arbeitslosenquoten, relativ gut gelungen. Nicht so in großen Teilen Europas. Wenn wir die Soziale Marktwirtschaft im europäischen Rahmen bewahren wollen, müssen auch andere Länder diesem Modell folgen. Frankreich scheint sich mit einiger Verspätung auf den Weg machen zu wollen.

 

Weiterhin gilt es, das Pathos von der als Einheit gedachten Gesellschaft, wie sie im Gemeinwohlbegriff zum Ausdruck kommt, zu relativieren. Die moderne Gesellschaft wird in Anlehnung an die Theorie von Niklas Luhmann nicht mehr im Lichte von Einheitlichkeit und Gleichheit, sondern als Nebeneinander ausdifferenzierter Funktionssysteme verstanden. Diese verkoppeln sich in der Regel nur miteinander, wenn dies zu ihrem Vorteil ist. Die Vertreter dieser Funktionssysteme müssen auf ihre Eigenheiten und auf die gesellschaftlichen Gegenseitigkeiten achten.

 

Diese Ankoppelung der Funktionssysteme – etwa von Wirtschaft und  Bildungssystem oder Wirtschaft und Gesundheitssystem – kann idealerweise zu ihrer gegenseitigen Ergänzung führen. Wenn sich die Vertretern eines Systems über den Tisch ziehen lassen, sich wie Lehrer- und Hochschullehrerverbände oder Ärzteverbände nicht gegen die Ökonomisierung ihrer Funktionen zur Wehr zu setzen verstehen, überwältigt das ökonomische Funktionssystem die Eigenlogik der anderen Systeme.

 

Dagegen hilft nur Engagement für die Bewahrung des eigenen Systems. Die Verbände müssen die ausdifferenzierten Funktionssysteme mit den Mitteln, die wir thematisiert haben, verteidigen, so dass etwa das Gesundheitssystem nicht mit industrieller Produktion zu verwechseln sein wird.

 

Im Bildungsbereich haben sich unsere Interessenvertretungen gegenüber den ökonomisch motivierten Angleichungsprozessen der Bachelorisierung, eine Art „kognitivem Euro“ (P. Sloterdijk), als zahnlos erwiesen. Das es den Vertretern der Medizin im Wissenschaftsbetrieb gelungen ist, den Bachelor-Arzt zu verhindern, ist ein Beispiel für gelungene Einflussnahme.

 

In der Weltfinanzkrise erwiesen sich nicht einzelne Institutionen oder Funktionssysteme als entscheidende Fehlerquelle, sondern die mangelnde Interaktion von Markt und Staat, von Eigennutz und Gemeinsinn, von globalen und nationalen Akteuren. Statt von einem Extrem ins andere zu pendeln, gilt es die Polaritäten wieder aufzurichten. Wenn alle denselben Signalen folgen, gehen Offenheit und Vielfalt eines zuvor ausdifferenzierten Systems verloren.

 

Nachdem die Bevölkerung harte Eingriffe der Agenda-Politik mitgetragen hat, das Ausbleiben von Lohnsteigerungen nahezu klaglos hingenommen und sogar Solidarität mit Banken und Bankrotteuren geübt wurde, sind nun die Global Player an der Reihe, ihrerseits mehr Solidarität mit den schwachen Gruppen in der Gesellschaft zu zeigen. Sie dürfen die für sie vorteilhaften Grenzenlosigkeiten nicht mehr dazu ausnutzen, sich die Rosinen aus dem Ganzen herauszupicken und umgekehrt die Vorteile der nationalen Systeme genießen. Am Fall Uli Hoeness erkennen wir, dass die Toleranz mit solchen Verhaltensweisen zu Ende geht.
 

Neben globalen und internationalen Interessen müssen auch die lokalen und nationalen Interessen geschützt werden. Das parallel zu Globalisierung die Zahl der Staaten immer weiter steigt, ist ein klares Zeichen. Die Schwächeren sind auf den Schutz von Grenzen angewiesen. Das gilt auch für die Zuwanderungsproblematik, in der die Wirtschaft von tüchtigen Zuwanderern profitiert und die sozial Schwachen des Aufnahmelandes mit sozial schwachen Zuwanderern in Konkurrenz um den Sozialraum treten müssen. 

 

Der Freihandel darf nicht zu einer Ideologie werden, die für endloses Wachstum grenzenlosen Wettbewerb in Kauf nimmt. Die Freihandelszone mit den USA darf nicht dem Abbau von  Schutzsystemen, sondern sollte dem Schutz von Produkten dienen, in denen die sozialen Entstehungskosten eingegangen sind, vor Dumpingprodukten, in denen keine sozialen Kosten Eingang gefunden haben.  

 

An den Rändern der EU. Von der Clankultur zur Zivilgesellschaft?

 

Wo die politische Willensbildung nicht von zivilgesellschaftlichen Verbänden strukturiert wird, herrscht die Vertikale zwischen Staat und Bürgern vor. Autoritarismus ist dann fast unvermeidlich. Als einzige Opposition verbleiben Oligarchen und Clans, ein trauriger Ersatz für die Zivilgesellschaft.

 

Die meisten nichtwestlichen Kulturen organisieren sich nicht als Gesellschaft, sondern nach Gemeinschaften, nach Familien und Gruppen und bilden daher Clankulturen. In ihnen gilt die Solidarität nicht einer abstrakten Gesellschaft, sondern nur dem eigenen Clan. In solchen Clankulturen treiben gerade die repräsentativen Strukturen der Demokratie eine minderheitsdiskriminierende Mehrheitspolitik und schließlich oft Bürgerkriege hervor.

 

Die viel beklagte Korruption ergibt sich aus der Logik einer Clankultur. Solange Nächstenhilfe als eine ethische Verpflichtung gegenüber der eigenen Familie bzw. dem Clan gilt, besteht keine Chance für die Universalität des Rechts und für die Gegenseitigkeit der Funktionen und Interessen in einer Zivilgesellschaft. Unsere Hilfestellungen können insofern nicht „der Gesellschaft“ zugute kommen, weil es diese gar nicht gibt.

 

Mit den freien Wahlen wurde, wie in Afghanistan, im Irak oder in Ägypten, das Haus vom Dach her aufgebaut. Auch die Wirren der ukrainischen Demokratie liegen u.a. darin begründet, dass es gar keine ukrainische Gesellschaft gibt und somit der Staat auf einem einsturzgefährdeten Gebäude errichtet wurde.

 

Demokratische Strukturen ohne zivilgesellschaftliche Voraussetzungen haben von Afghanistan bis Bosnien-Herzegowina Schaden angerichtet. In Bosnien stehen über vierzig Prozent Arbeitslose den Praktiken der nun in Parteien organisierten Ethnien und Clans hilflos gegenüber.[10]

 

Die Institutionen der multikulturellen Demokratie, von den Parteien bis zu den 110 Ministern in diversen Regierungen, rauben das Land im Konsens aus. Sie definieren ihre Zugehörigkeiten über einen kulturalistischen Identitätswahn, in dem die Interessen nicht nach individuellen Kompetenzen und universellen Rechten, sondern nach Religions- und Nationsgruppen verteilt werden.

 

Es gibt hier keine Alternative zum  Aufbau von Verbänden als Voraussetzung einer künftigen Zivilgesellschaft, in der sich die Interessen der Individuen zugleich  gegen die Clans und gegen deren korruptes Staatsgebilde verteidigen.

 

Im Rückblick auf die vielen Fehler des Westens beim Nation Building in anderen Kulturen wird eine angemessenere Reihenfolge im Prozess der Zivilisierung erkennbar. Diese sollte über den Aufbau von individuellen Kompetenzen, den Aufbau des Marktes zum Aufbau einer Zivilgesellschaft führen. Erst danach haben die liberaldemokratischen Institutionen eine Chance.

 

Der Prozess der Zivilisierung verläuft demnach in etwa in dieser Reihenfolge:

 

  • Ausbildung und Aufklärung der Bürger

 

  • Marktwirtschaft durch Eigentumsrechte

 

  • Aufbau der Zivilgesellschaft durch Verbände

 

  • Rechtsstaatliche Administration  

 

  • freie Wahlen und demokratische Gewaltenteilung

 

  • Bürgerliche Gegenseitigkeiten der Sozialen Marktwirtschaft

 

Entwicklungen verlaufen nicht „von oben nach unten“. Es ist umgekehrt reine Sozialromantik, nur auf eine Entwicklung „von unten nach oben“ zu vertrauen. Die wichtigsten Entwicklungsprozesse gehen von den Vertretern der Funktionssysteme aus der Mitte der Gesellschaft aus, von kompetenten und qualifizierten Leistungsträgern, sofern sie sich in Verbänden zusammenzuschließen und in die Willensbildung einzubringen verstehen.

 

Das Erfreuliche, aber auch das Fordernde an dieser Entwicklungstheorie ist, dass sich hierbei jeder Bürger im Rahmen von Verbänden konstruktiv einbringen kann. In der nächsten Vorlesung werden wir sehen, dass sich auch der Einzelne in der Internetgesellschaft soweit vernetzen kann, dass ihm neue Freiheits- und Verantwortungsräume offenstehen.  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] So ihr Pressesprecher Christian Froncak, in: Hinter den Kulissen der Macht, in: Bonner General-Anzeiger v. 7/8.1.2012.

[2] Ulrich von Alemann, Florian Eckert, Lobbyismus als Schattenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 15-16/2006, S.3ff

[3] www.lobbycontrol.de

[4] www.bundestag.de/dokumente/lobby/index.html

[5] Zahlen aus der Spiegel v. 17/2013, S. 60-67

[6] Vgl. Martin Seebaldt, Alexander Strasser, Verbände in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2005,  S. 218.

[7] Richard Münch, Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft. Zur Dialektik von transnationaler Integration und nationaler Desintegration, Frankfurt, New York 2008.

[8] Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage , Notizen 2008-2011, Berlin 2012, 3.Aufl. S. 181ff

[9] Karl Homann, Vorteile und Anreize. Zur Grundlegung einer Ethik der Zukunft, hrsg. Von Christoph Lütge, Tübingen 2002

[10] Vgl. Heinz Theisen, Nach der Überdehnung. Die Grenzen des Westens und die Koexistenz der Kulturen, 3.Aufl. Berlin 2014.