Prof. Dr. Heinz Theisen

Politikwissenschaftler

Universalismus und Kulturalismus in der Ukraine

Veröffentlicht in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, September 2014      Druckversion

Im zunehmend gefährlicher werdenden neuen Ost-West Konflikt über die Ukraine prallen zwei inkompatible Vorstellungswelten aufeinander. Es ist wenig Bemühen um ein Verstehen dieser Unterschiede zu erkennen. Eine uns selbst schädigende Sanktionsspirale und die sich steigernden moralischen Empörungen tragen nicht zur notwendigen Deeskalation bei. 

Die russische Außenpolitik beruht wie die der meisten Weltmächte auf dem Glauben an die realpolitische Legitimität einer Einflusssphäre, die gleichzeitig als Schutz und Puffer vor anderen Mächten dienen soll. Diese definiert sich weltweit in zunehmenden Maße wieder nach der kulturalistisch aufgeladenen Bedeutung von Geschichte, Sprache, Ethnie und Religion. Im Falle der Ost-Ukraine weisen diese Kriterien alle auf dessen kulturelle Zugehörigkeit zu Russland hin. Der westliche Universalismus verläuft hingegen nach den liberalen demokratischen Idealen; bei den USA sind die Übergänge zur wirtschaftlichen Interessenssphäre fließend. Auch das Völkerrecht bietet in diesem Konflikt keine klare Auskunft, weil in ihm das eher kulturalistische Selbstbestimmungsrecht der Völker mit der Souveränitätsgebot der Staaten kollidiert. 

Die Europäische Union „glaubt nicht an Einflusssphären“ (Jose Manuel Barroso), womit sie im Grunde die ganze Welt zu ihrer Einflusssphäre erklärt. Und nach längerem Zögern nun  auch die Ukraine, obwohl diese weder zur EU noch zur Nato gehört. Während der Westen bei Tibet, Georgien und Transnistrien die realen Machtverhältnisse akzeptiert, zählt sie die Ukraine zum Westen, offenkundig hatte die Maidan-Revolution dafür den nötigen Qualifikationsausweis erbracht.     

In der Ukraine treffen die west-östlichen Kulturen unmittelbar aufeinander. Es hätte daher alles getan werden müssen, durch eine Föderalisierung bis hin zur Autonomisierung, gegebenenfalls auch durch Scheidung wie in der Tschechoslowakei und durch Abstimmungen über Zugehörigkeiten einen rationalen Umgang mit dieser Bikulturalität zu ermöglichen. Statt dessen setzten die Revolutionäre in Kiew auf Sieg und auf eine nationale Einheit, die faktisch die Dominanz der West-Ukraine bedeutete. Die gerade auch von EU-Außenministern ausgehandelten Übergangslösungen wurden über Nacht beiseite gewischt und der immerhin demokratisch gewählte Präsident verjagt.

Trotz dieses – nicht nur aus russischer Sicht als „Staatsstreich“ zu wertenden Vorgangs und trotz der zwielichtigen, dem Neofaschismus nahe stehenden Elemente in der neuen ukrainischen Regierung ging die Union nicht auf Distanz. Sie stärkte vielmehr Kiew den Rücken und planierte mit neuen Angeboten den Weg zum Westen, was Russland in ähnlicher Weise als geopolitischer Übergriff empfindet wie es die USA bei einem Bündnis zwischen Kanada und China täten. Putin hatte schon 2008 anläßlich einer der Ukraine in Aussicht gestellten Nato-Mitgliedschaft klargestellt, dass dies  inakzeptabel sei. Auch wenn diese Wahrnehmung aus westlich-universalistischer Perspektive nicht verstanden wird: Wahrnehmungen, ob richtig oder falsch, sind Realitäten, die ins Kalkül zu ziehen sind. Die Vorherrschaft der universalistisch-liberalen Weltsicht hat die Kunst der Realpolitik im Westen fast außer Kraft gesetzt. 

Welcher Ausweg bietet sich aus der verfahrenen Lage an? Um einen heißen Krieg zu vermeiden, könnte noch die Rückkehr zu den eingeübten Mechanismen des Kalten Krieges helfen, die trotz ideologischer Inkompatibilitäten der Frieden bewahren halfen. Trotz Ablehnung der gegnerischen Prinzipien wurden die Einflusssphären getrennt, zur Not mit rigorosen Abtrennungen. Selbst Mauern sind immer noch besser als Kriege. Die militärischen Garantien für die Bündnismitglieder wurden umso glaubwürdiger. Die heute geplante Verstärkung der Nato-Präsenz in den mittelosteuropäischen Mitgliedstaaten ist mit dieser Logik vereinbar.   

Auch im Kalten Krieg galten uns Demokratie und Menschenrechte als oberste moralische Werte, gleichwohl stellte die Realpolitik jener Zeit die Grenzen der Systeme in Rechnung. Sie half, Berlin- und Kubakrise, Korea- und Vietnam-Krieg ohne Weltkrieg zu überstehen. Ihre Spielregeln ermöglichten flexible Reaktionen, die von der Eindämmung bis zur Entspannung reichten. Entscheidend wäre jedoch die Begrenzung der universalistischen Ideale auf das Mögliche. Mit dem russisch-orthodoxen Kulturkreis sind dessen Grenzen und damit die Grenzen sowohl der Nato als auch der Europäischen Union erreicht. Darüber hinaus sind nur graduelle Annäherungen möglich, wie einst durch die Hintertür: durch Wissenschaft, Technik und Handel. 

Ein kalter Kulturkrieg dient der Verhinderung eines heißen Kulturkrieges. Nach dem Ende der nur kurzzeitig möglich erscheinenden Pax Americana muss heute eine multipolare Weltordnung im Rahmen ihrer kulturellen Grenzen aufgebaut werden. Während das Baltikum unbestritten zum Westen gehört, müssen kulturell gespaltene Ländern ihr interkulturelles Schicksal als Pufferzone annehmen. Idealerweise ließ sich dieses zu einer einträglichen Brückenfunktion zwischen den Kulturen ausgestalten. 

Die Ukraine wäre angesichts des Verlaufs ihrer Energietrassen dafür prädestiniert gewesen. Der Westen droht über die Selbstberauschung an der Universalität seiner liberalen Ideale sogar den Sinn für seine Interessen zu verlieren. Er bräuchte Russland in Zukunft als militärischen Partner gegen den Islamismus, als Wirtschaftspartner gegen China und heute schon unabdingbar für eine gesicherte Energieversorgung. Dies alles den  Interessen Kiews nachzuordnen ist ein Vorgang, der dringend einer nüchternen Überprüfung bedürfte.