Quelle: https://heinztheisen.de/paper/eindammung-des-islamismus-als-minimalkonsens

Heinz Theisen

Eindämmung des Islamismus als Minimalkonsens

Februar 2015

Der Islamismus gehört nicht zu Deutschland
Was Muslime zum Minimalkonsens beitragen sollten
Wehrhafte Demokratie in der Europäischen Union 5
Minimalkonsens der Demokraten 8
Minimalkonsens der Kulturen
Minimalkonsens wissenschaftlich-technische Zivilisation

 

Die 5000 europäischen Dschihadisten, die in den Reihen der IS in der Levante mitkämpfen, stellen nach ihrer Rückkehr die Wehrhaftigkeit der Demokratie auf eine harte Probe. Während die USA den Kampf gegen den islamistischen Terror im Orient verloren haben, konnten sie sich im Innern behaupten. Sie haben dafür mit der Beschädigung der Rechtsstaatlichkeit einen hohen Preis bezahlt. Dazu waren die Europäer nicht bereit. Sie müssen dafür einen hohen Preis in Verlusten an Menschenleben entrichten.

Der Islamismus gehört nicht zu Deutschland

Der Satz der Bundeskanzlerin „Der Islam gehört zu Deutschland“ ist nur in einem empirischen, aber nicht in einem normativen Sinne richtig. Später ergänzte sie den Satz dahingehend, dass der Islamismus nicht zu Deutschland gehört. Das Grundgesetz schütze nur die Glaubensbekenntnisse, die sich innerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen. Islamismus und Extremismus gehörten nicht dazu und müssten entschlossener bekämpft werden“. 1

In der Unterscheidung zwischen einem integrierbaren religiösem Islam und einem zu bekämpfenden politischen Islamismus schält sich ein politischer Minimalkonsens sowohl der Demokraten wie zwischen den Kulturen heraus. Da die Übergänge zwischen ihnen jedoch fließend sind, ist es nicht leicht, beide Ebenen zu definieren. Laut einer einschlägigen Studie des Bundesinnenministeriums über „Muslime in Deutschland“ gaben 46,7 Prozent der Befragten an, dass ihnen die Gebote der Religion wichtiger sind als die Demokratie und immerhin ein Viertel der muslimischen Jugendlichen bejahte schon 2007 die eigene Bereitschaft zur körperlichen Gewalt gegen Ungläubige im Dienst der islamischen Gemeinschaft.2

Diesen Fluß vom Islam zum Islamismus gilt es in der politischen Bildungsarbeit, der Sozialen Arbeit bis hin zur Gesetzgebung und Justiz einzudämmen. Die gemäßigten Formen des „friedliebenden Islams“ stehen schon in der islamischen Welt im Kampf mit denjenigen, die in der Radikalisierung und Politisierung des Islams, seiner Ausweitung zu einer alle Lebensbereiche umfassenden Bewegung den großen Fortschritt zum Ursprung erkennen.3

Da die 2000 Imame in Deutschland und nahezu alle islamischen Organisationen wie DITIP, Milli Görüs und die Kulturvereine zum größten Teil aus dem Ausland gesteuert werden, können sie sich der Theologie ihrer Herkunftsländer nicht entziehen. Nach den vier prägenden Rechtsschulen, ob sunnitisch oder schiitisch, müssen jene getötet werden, die Gott und seinen Gesandten beleidigen. Die Tötung von Homosexuellen wird ebenfalls gefordert. Und diese Theologie wird – so der muslimische Religionspädagoge Ednan Aslan –gepredigt und von der Mehrheit der Muslime vertreten. Die Attentäter seien sehr überzeugte Muslim, die für ihren Glauben sterben und als Märtyrer Belohnung erwarten.4

Was Muslime zum Minimalkonsens beitragen sollten

Mit Recht werden Kreuzzüge, die spanische Inquisition und die Korruption des Klerus in eine Beziehung zum Christentum gesetzt. Aus der Kritik an diesen Fehlentwicklungen nahmen Reformation und Aufklärung ihren Ausgang. Wer eine Beziehung zwischen religiösem Islam und politischen Islamismus leugnet, behindert die notwendigen Reformprozesse im Islam.

Die Unterscheidung zwischen dem Islam als Ideologie und den Muslimen als Individuen setzt wiederum den Willen der Individuen voraus, eigene Positionen einzunehmen, also sich aufklärerischen Ansprüchen zu öffnen. Dafür werden mit dem Islamkundeunterricht an deutschen Schulen Angebote gemacht. Ausgebildete und als Staatsdiener zur Loyalität gegenüber dem Grundgesetz verpflichtete Lehrer sollen zu einem modernen Islamverständnis beitragen. Der dekadente Westen könnte eine neue Herausforderung durch einen aufgeklärten Islam so gut brauchen wie seinerzeit die Katholische Kirche die der Reformation.

Die westchristliche Theologie hat das Christentum in Europa über sich selbst aufgeklärt - bis an den Rand der Selbstauflösung. Auch darüber ist die Balance von Glaube und Zweifel verloren gegangen. Aber schon ausgehend vom Neuen Testament hat das Christentum Gewalt verurteilt und alle späteren Sündenfälle in der Realität ändern nichts daran, das die christliche Botschaft der Nächstenliebe gegen Gewalt gerichtet ist.

Statt der theologisch irrelevanten islamischen Interessenverbände müsste die islamische Geistlichkeit das Wort ergreifen und sich nicht nur vom Terror, sondern von dessen geistigen Voraussetzungen distanzieren. Der Dschihadismus ist psychologisch nur aus den Belohnungen in der jenseitigen Existenz zu verstehen. Mit ihnen erhält der Märtyrer eine Bedeutung, die über sein einzelnes Leben hinausgeht. Dem nicht als Logos, sondern als absoluten Willkürgott gedachten Allah gilt nur das Märtyrertum als sicherer Weg ins Paradies. Diese Vision ist besonders attraktiv für diejenigen, die im Diesseits nicht viel zu erwarten haben.

Solange Ungläubige theologisch geschmäht werden dürfen, ist es nur ein kleiner Schritt zu ihrer physischen Verdammung. Solange in Moscheen das Märtyrertum gepriesen und Jungfrauen für Selbstmordattentäter in Aussicht gestellt werden, kommen Distanzierungen nach Terroranschlägen zu spät.5 Die Rolle der Frau im Paradies ist nicht mehr zeitgemäß. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die zunehmende Zahl der gut ausgebildeten jungen Frauen in der islamischen Welt weiterhin den Männerphantasien im Diesseits und Jenseits unterwerfen. Sie könnten vielmehr bald ein revolutionäres Subjekt gegenüber Islamismus und Dschihadismus bilden.

Derzeit ist man im Nahen Osten für die Eindämmung des Islamismus noch auf autoritäre Mächte angewiesen, auf Könige, Emire oder Militärs. Der ägyptische Präsident Abd al Fattah al Sisi forderte von den Gelehrten und Predigern der Al-Azhar Universität nicht weniger als eine „Revolution unserer Religion“. Die ideologischen Grundlagen des Islams müssten radikal überdacht werden, um weitere Erdbeben zu verhindern. Es sei „…undenkbar, dass die 1,6 Milliarden Muslime dem Rest der Menschheit das Gefühl gäben, sie wollten sie töten. Die ganze Welt wartet auch deshalb auf ihre Worte, weil die muslimische Nation zerrissen und zerstört wird und auf ihren Untergang zusteuert.“

Wehrhafte Demokratie in der Europäischen Union

Ultima Ratio wird fälschlicherweise immer als „letztes Mittel“ übersetzt. Doch wer zu spät kommt, wird bekanntlich von der Geschichte bestraft. Die „äußersten“ Mittel der physischen Gewalt müssen gegebenenfalls gegenüber Extremisten parallel zu gutwilligen „interkulturellen Dialogen“ eingesetzt werden.

Deutschland kann im Kampf gegen den Islamismus auf die im Kampf gegen den politischen Totalitarismus bewährte „Wehrhafte Demokratie“ des Grundgesetzes zurückgreifen. Vom Parteien- und Verbändeverbot bis hin zur Einschränkung der Pressefreiheit bei Gewaltpropaganda (Art. 18 GG) hält unsere Verfassung ein Arsenal von Abwehrmaßnahmen gegenüber dem politischen Extremismus bereit. Bevor sie auf die neue Bedrohung übertragen werden, müsste Übereinstimmung darüber herrschen, dass Islamismus nicht unter die Rubrik Religionsfreiheit, sondern unter politischen Extremismus fällt. Aus den Verfassungsartikeln ließen sich eine Fülle von notwendigen Gesetzen ableiten, die etwa religiös motivierte Gewalthetzer konsequent auszuweisen gebieten.

Schon bei der Vergabe der Staatsbürgerschaft sollte - wie in den USA - Loyalität gegenüber dem Staatswesen eine größere Rolle spielen als ökonomische Opportunitäten. In Frankreich erwägt die Regierung, gewaltbereiten Islamisten im Falle einer Doppelstaatsbürgerschaft die französische Staatsbürgerschaft wegen „Unwürdigkeit“ zu entziehen.. Die in Deutschland neuerdings großzügig vergebenen Möglichkeiten zur Doppelstaatsbürgerschaft könnte sich in Einzelfällen als Chance erweisen, Dschihadisten die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Wie die meisten großen Probleme der Gegenwart trägt auch der Dschihadismus einen globalen Charakter. Kleinere Nationalstaaten sind den globalen Problemen schon lange nicht mehr gewachsen. Die inter- und supranationale Organisationen wie die EU sind ihnen meist noch nicht gewachsen. Die Delegation von nationalstaatlicher Hoheitsgewalt an die Europäische Union verringert die Wehrhaftigkeit der Demokratie, solange die EU noch nicht über neue dementsprechende Kompetenzen verfügt.

Bei Asyl- und Zuwanderungspolitik verhält es sich ähnlich wie bei der Finanzpolitik: Deutschland hat seine politische Gestaltungsmacht weitgehend einem Gemeinschaftssystem anvertraut, welches vormalige Pflichten der Einzelstaaten in den gemeinsamen europäischen Raum verlegt. Im Dublin-Abkommen war vereinbart worden, dass die Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten zur Klärung ihres Status zunächst in jenen Staaten aufgenommen werden, in die sie zuerst eingereist sind.

Diese Regelung war notwendig, damit Migranten nicht ohne geklärten Status in den 500-Millionen-Bevölkerungsraum der EU reisen können und willkürlich zirkulieren. Jeder größere Territorialstaat dieser Welt trifft eine solche Regelung und setzt dafür seine Grenzregionen (und seine Flughäfen) als Auffangräume ein. Mit den Dublin-Abkommen sollte die gleiche Stabilität gewährleistet werden, wie es sie vordem bei den Nationalstaaten gegeben hatte. Faktisch ist dieses Abkommen durch Überlastung der südeuropäischen Staaten außer Kraft gesetzt. Ihnen gelingt es nicht, funktionierende Aufnahmesysteme aufzubauen und so werden die Flüchtlinge nach Norden weitergeleitet. Wenn es der EU nicht gelingt, ein funktionierendes Grenzregime aufzubauen, droht eine Rückforderung dieser Staatsgewalt durch die Nationalstaaten.

Es wird viel davon abhängen, dass zwischen den Nicht-Mehr Kompetenzen der Nationalstaaten und den Noch-Nicht-Kompetenzen der EU kein schwarzes Loch entsteht, in dem sich die Dschihadisten vergraben können. Einstweilen behilft sich die EU mit Koordination, Beobachtung und Überwachung. Die EU-Fahnder sollen an den Außengrenzen der Union künftig potentielle Dschihadisten mit europäischem Pass an der Ein- oder Ausreise hindern. Innerhalb des Schengener Informationssystems sind seit den Pariser Anschlägen vermehrte Kontrollen und ein schnellerer Datenaustausch über Terrorverdächtige möglich. Terrorfahnder können an der Grenze Verdächtige festnehmen und ihre Pässe entwerten.

Nach den Pariser Anschlägen stimmte das Bundeskabinett einer Verschärfung des Strafrechts zu, der zufolge zukünftig schon der Versuch zur Abreise in eine Region, in der sich ein Ausbildungslager für Terroristen befindet, strafbar ist und lange Gefängnisstrafen zur Folge haben kann. Auch die Finanzierung von Terrorismus steht künftig unter Strafe. Es wäre noch wichtiger, Dschihadisten an der Wiedereinreise zu hindern.

In der Einwanderungs- und Asylpolitik ist auf Dauer eine Differenzierung der Geister geboten, um Europa besser vor den Kulturkämpfen des Nahen Ostens zu schützen. Zuwanderern müssen nicht nur nach humanitären oder ökonomischen Kriterien, sondern auch nach politischen Kriterien beurteilt werden. Nicht alle fliehen aus den gleichen Gründen. Ob ägyptische oder syrische Islamisten vor säkularen Regimen oder ob religiöse Minderheiten vor Islamisten fliehen, sollte den Aufnahmeländer nicht egal sein.

700.000 der zuvor 1,5 Millionen Christen Syriens, mussten vor Islamisten fliehen, weil sie traditionell dem säkularen Assad-Regime nahegestanden hatten. Als Flüchtlinge stellen sie in Deutschland fest, dass die Sympathisanten ihrer Verfolger ebenfalls Asyl oder den Duldungsstatus erhalten haben, womit Konflikte des Nahen Ostens ungefiltert nach Deutschland importiert werden. Von Islamisten verfolgten Minderheiten wie Christen, Jesiden oder Bahais sollten bei der Asylaufnahme Vorrang vor den Sympathisanten ihrer Verfolger erhalten.

Minimalkonsens der Demokraten

Der Westen fordert mit seiner permissiven Toleranz zu wenig an demokratischem Minimalkonsens ein. Wenn in der Vereinseitigung von Ideologien auch in einer einseitig emanzipatorischen Pädagogik nur die angenehmen Werte, die Rechte, Eigeninteressen und deren Förderung beschworen werden, enden wir bei jener westlichen Spätkultur, über die Michel Houellebecq sich zu Recht lustig macht und die Zuwanderern aus traditionellen, autoritären Kulturen keinen Respekt abnötigt.

Innerhalb der westlichen Demokratien ist keine Leitkultur mehr gegeben. Zu groß ist bereits ihre Vielfalt an Kulturen und Religionen, die nur noch eine Koexistenz der Kulturen erlaubt. Umso wichtiger wird die politische Integration in die Leitstruktur der demokratischen Staatsordnung. Dazu gehört die Akzeptanz der Verfassungsordnung, der Gesetzesgehorsam und der Respekt vor staatlichen Institutionen, von den Schulen bis zu den Gerichten, und zwar unabhängig davon, ob man deren Werte und Inhalte teilt. Identitäten und Religionen müssen in einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation auch gegenüber den Strukturen und Funktionen als nachrangig gelten.

Die Leitstruktur der pluralistischen Demokratie ermöglicht unterschiedliche Leitkulturen. Die Hierarchie zwischen universell geltenden Strukturen und Werten sowie partikularen Werten muss im öffentlichen Raum geklärt sein. Die säkulare Zivilisation beruht auf der vom Westfälischen Frieden geschaffenen Ordnung, in der die Staatsordnung Vorrang vor religiösen Werten hat.

Heute bauen sich fast überall in Europa neue Parteien und Bewegungen auf, die die Bewahrung der eigenen Kultur thematisieren. Selbst in Regionen, in denen nur noch Reste des Christentums vorhanden sind, wird plötzlich „für das Abendland“ gestritten. Dies geschieht so lange oft dumpf und sprachlich ungelenk, wie Intellektuelle und Medien diesen „Populismus“ von mehrheitlich nichtradikalen Bürger nur diffamieren, anstatt ihn in den öffentlichen Diskurs zu integrieren. Hier gilt es vielmehr, die Spreu vom Weizen zu trennen und letzteren in den Minimalkonsens der Demokraten zu integrieren.

Die Differenzierung von Protestbewegungen ist genauso angezeigt wie die des Islams. Der Westen kann es sich in seiner Schwäche gar nicht mehr leisten, gegen „den Islam“ zu kämpfen. Da es „den Islam“ nicht gibt, brauchen wir umso mehr eine Unterscheidung nach Freunden, Gegnern und Feinden in der islamischen Welt. Innerhalb des Islams gibt es - wie bei anderen Religionen und Ideologien – desinteressierte, laue, gemäßigte, opportunistische, radikale und extremistische Kräfte, was einen differenzierten Umgang mit ihnen möglich, aber auch nötig macht.

Demokratisierung ist im Westen synonym mit Rechten und Freiheiten, im Nahen Osten ruft ihre Vorzeitigkeit oft gegenteilige Ergebnisse hervor. Das gängige politische Vokabular des Westens ist gegenüber dem religiös-politischen Konvulsionen des Islamismus geradezu irreführend. Mit vagem Verfassungspatriotismus und Rechtspositivismus diffuser Werte, in denen jederzeit jeder durch einen anderen relativiert werden kann, ist der Westen für den Kampf gegen den Islamismus nicht gerüstet. 6

Im Kampf von Kulturen macht auch die altideologische Unterscheidung zwischen „Links und Rechts“ wenig Sinn. Eingeübte Gegensätze wie Freiheit oder Sicherheit sind ebenfalls wenig hilfreich. Sicherheit ist nicht der Gegensatz, sondern eine Voraussetzung von Freiheit. Toleranz gegenüber den Feinden der Toleranz, droht die Toleranz im Ergebnis zu zerstören. Oft stehen religionspolitische Themen so quer zu den alten Konflikten, dass nur noch das Allerweltswort „Populismus“ weiterhilft. Populismus wird gemeinhin als Schielen nach der Volksmeinung verstanden; auf Dauer ist dieser Begriff nicht als Widerspruch zur Demokratie als Volksherrschaft geeignet.

Auch innerhalb der sozialistischen Ideologie gab es gemäßigte Sozialdemokraten, demokratische Sozialisten, Funktionäre und Karrieristen, radikale Kommunisten gewaltbereite Stalinisten und Völkermörder wie Pol Pot, zu dessen Beseitigung das kommunistische Vietnam einschreiten musste. Ohne das Bündnis mit den Sozialdemokraten und demokratischen Sozialisten hätte sich der Westen weder außen- noch innenpolitisch gegen die totalitären Formen des Sozialismus behaupten können.

Die nationalistische Ideologie reicht von bürgerlichen Patrioten, die sich für das Gemeinwohl ihres Landes einsetzen, über Wutbürger und mehr oder weniger radikale Populisten, demokratischen Nationalisten bis hin zu gewaltbereiten Rechtsextremisten. Sie allesamt unter „Rechts“ in einen Sack zu stecken, dient weder der Analyse noch der Notwendigkeit, auch mit der Hilfe von konservativen Kräften den Rechtsextremismus zu bekämpfen. Konservative vermögen in religiösen und kulturellen Kategorien zu denken und sie gehören zu den wenigen, die über die Wurzeln unserer Kultur reflektieren. Sie sind für eine Gesellschaft so wichtig wie Bremsen beim Auto. Ihr skeptischer Geist erinnert an die Grenzen von Aufklärung und Demokratie, deren Mißachtung in den letzten Jahrzehnten den Westen in große Kalamitäten verstrickt hat.

Wie im Kalten Krieg verläuft die entscheidende Front zwischen der „offenen Gesellschaft und ihren Feinden“ (Karl Popper), zwischen denen, die Politik als Suche betreiben und denen, die aufgrund einer Quelle und eines Propheten alles mit allem in Verbindung bringen, Politik und Wirtschaft, Staat und Religion, Öffentliches und privates Leben. Der heutige westliche Relativismus, demzufolge Nichts mit Nichts in einem Zusammenhang steht, ist als Gegenextrem kaum geeignet, unsere Kultur zu erhalten.

Zu deren Bewahrung muss das, was historisch und politisch zusammengehört, auch in eine Verbindung gebracht werden. Säkularer Demokraten sowie die Leistungsträger der ausdifferenzierten Funktionssysteme müssen gemeinsam gegen einen Islamismus kämpfen, der schon mit der Vielfalt innerhalb des Islams geschweige innerhalb der westlichen Kultur nichts anzufangen weiß. Leibt diese große Koalition der säkularen Kräfte aus, könnten sich die Visionen von Michel Houellebecq verwirklichen, nach der linke Demokraten in Frankreich die Islamisten an die Macht bringen, um die Macht der „Rechten“ zu verhindern.

Minimalkonsens der Kulturen

Die Versuche des Westens, im Nahen und Mittleren Osten durch militärische Interventionen seine Werte und Strukturen zu universalisieren, sind gescheitert. Sie haben stattdessen Anarchie und Islamisierung hervorgetrieben. Die westliche Außenpolitik steht heute vor einem Paradigmenwechsel: von der Universalisierung zur Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung, von der Integration zur Koexistenz der Kulturen und Mächte. Nach seiner Überdehnung versucht der Westen nur noch, die schlimmsten Auswüchse des Islamismus wie das Kalifat in der Levante einzudämmen. Dafür ist er aber auf die Zusammenarbeit mit alten und neuen autoritären Regimen und selbst mit stockkonservativen islamischen Kulturen wie Saudi-Arabien und Bahrain angewiesen.

Diese aus weltanschaulicher perspektive bizarren Koalitionen entsprechen der skeptischen Einsicht, dass das kleinere Übel dem größeren vorzuziehen ist. Das Kalifat hat weltweit die Zivilisation herausgefordert, unabhängig von deren unterschiedlichen politischen Systemen und Kulturen. Über das Bündnis für die Zivilisation relativieren sich herkömmliche Konflikte zwischen Demokratie und Diktatur. Schon die Einforderung von Säkularität würde den denkbar niederschwelligen Minimalkonsens für die Eindämmung des Islamismus gefährden. Mit Hilfe eines immerhin 60 Staaten umfassenden Bündnisses scheint die Eindämmung in der Levante zu gelingen. Nach dem barbarischen Mord an einem gefangenen jordanischen Piloten, einer muslimischen Geisel, waren Personen der sunnitischen Geistlichkeit bereit, die IS als „unislamisch“ zu verdammen. Die Morde an westlichen Geiseln hatten dafür nicht ausgereicht.

Gegenüber den kleineren Übeln wie Saudi-Arabien ist eine politische Freundschaft unangemessen. Ein angemessenes Verhältnis zu ihnen läßt sich besser mit der Strategie der friedlichen Koexistenz beschreiben, die im Kalten Krieg der Phase der Eindämmungspolitik folgte.7 Für den nächsten Schritt zur Entspannungspolitik bedürfte es zuvor eines Minimalkonsenses zwischen den Kulturen.

Zwischen den monotheistischen Religionen gibt es im Prinzip einen Wertekonsens. Sie alle – so jedenfalls Freise und Khorchide – seien der Bewahrung der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität verpflichtet.8 Problematisch wird es allerdings, wenn man nach den genaueren Bedeutungen dieser Begriffe und nach deren Rangordnung fragt, aus denen sich erst die Eigenwertigkeit der Kulturen ergibt. So macht es einen Unterschied, ob mit Menschenwürde die sexuelle Selbstbestimmung oder die Jungfräulichkeit einer unverheirateten Frau gemeint ist, ob das Individuum oder das Kollektiv, ob individuelle Menschenrechte oder kollektive Menschenpflichten, ob Freiheit oder Hingabe an Gott an oberster Stelle der Werteordnung stehen.

Was zwischen den Zeiten und Kulturen variiert, ist weniger der Bestand an Werten und Normen als ihr relatives Gewicht und die ihnen jeweils zugeschriebene Rangfolge.9 Der Wertedialog zwischen Religionen und Kulturen sollte daher weniger nach Gemeinsamkeiten als nach Gegenseitigkeiten zum Aufbau eines Minimalkonsenses suchen.

In ihren jeweils extremen Ausprägungen sind libertäre und traditionelle Kulturen inkompatibel. Traditionelle Kulturen, aus denen die meisten nichteuropäischen Zuwanderer kommen, sind mit dem Relativismus und dem einseitig individualistischen Hedonismus überfordert und oft von ihm abgestoßen. Wenn sie Gehorsam vor der Freiheit, Glaube vor der Vernunft, Familie vor dem Individuum stellen, ist ein Konsens und eine Integration kaum möglich.

Eine Annäherung der Kulturen kann nur über eine vorangegangene Annäherung der Wertepolaritäten in der eigenen Kultur gelingen. Vermeintliche Gegensätze zwischen ihnen müssen in ein Verhältnis der Gegenseitigkeit gesetzt werden. Die Wurzeln jedenfalls unserer Kultur sind weitverzweigt, von den Klassikern der Griechischen Antike, dem Römischem Recht, dem Christentum bis zur neuzeitlichen Aufklärung. Angesichts dieser Vielfalt sollte es nicht um deren Vereinseitigung und um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-als-auch gehen. Nicht im Entweder-Oder zwischen Glaube und Vernunft, Individuum und Gemeinschaft, Rechte und Pflichten, Eigennutz und Gemeinnutz, Freiheit und Verantwortung, sondern in der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen ihnen kann der Minimalkonsens der Kulturen gesucht werden.

Minimalkonsens wissenschaftlich-technische Zivilisation

Die vorherrschenden Paradigmen der heutigen Weltentwicklung sind nicht mehr Religion, und Politik, sondern Wissenschaft und Technik. In der islamischen Welt findet dies seinen Niederschlag in dem Vordringen individualistischer und emanzipatorischer Werte. Zumal unter jungen Leuten sind die Veränderungen im Kommunikations- und Lebensstil – parallel zu den religiösen Konvulsionen - unverkennbar. Sie treffen auf ein Patriarchat, welches sich in der neuen Welt kaum mehr zu legitimieren weiß und sich daher mit Regressionen in die Ursprünge zu retten versucht. Vergleiche zur nationalsozialistischen Regression gegenüber den Zumutungen der Moderne drängen sich hier auf.

Auf eine steigende Zahl arbeitsloser junger Menschen des Nahen Ostens und Nordafrikas übt zwar nicht die westliche Demokratie, aber die westliche Zivilisation im Sinne ihrer technischen Möglichkeiten und materiellen Erfolge eine hohe Anziehungskraft aus.10 Der Youth Buldge in der arabischen Welt wird nicht anders als durch eine forcierte Zivilisierung und Ökonomisierung bewältigbar sein, zumal immer mehr gut ausgebildete Frauen auf den Arbeitsmarkt drängen. Anders als die Identitäten und Werteordnungen (Kulturen) zwingen die Strukturen und Funktionen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation Rationalität herbei.

Der Minimalkonsens der beruflichen Funktionalität würde das unterjüngte Europa und der überjüngte Nahe Osten sich zu ergänzen helfen. Ein anderes Beispiel für den Minimalkonsens „Zivilisation“ wäre eine Freihandelszone vom Atlantik bis Wladiwostok, die den russischen Kulturalismus besänftigen und Konflikte wie in der Ukraine auf einer höheren zivilisatorischen Ebene aufheben könnte.

Volker Perthes schlägt eine Förderung der Berufsausbildung innerhalb der arabischen Welt sowie ein Programm vor, das sich an Hochschulabgänger aus arabischen Ländern richtet. Das Programm sollte für einige Zehntausend Fachkräfte und Graduierte pro Jahr Traineeships in europäischen Firmen anbieten, in denen sie Berufserfahrung erwerben, um danach in Europa oder im Herkunftsland einen Betrieb gründen oder Arbeit finden zu können.11 Solche Wege würden die Lage arbeitsloser Jugendlicher verbessern, deren Migrationswünsche nach Europa durch reale Chancen in geordnete Bahnen kanalisieren und im Idealfall sogar eine Brain Circulation zwischen den Kulturen auf den Weg bringen.

Diese Strategie einer Zivilisierung von Kulturen könnte dem Westen aus seiner politischen Defensive heraushelfen, uralte religiös-kulturelle sowie alte ideologisch-politische Konflikte relativieren und damit den Kampf der Kulturen in einen Kampf um die Zivilisation transformieren helfen.12

 

 

1 Angela Merkel, Der Islamismus gehört nicht zu Deutschland, Interview in „Welt am Sonntag“ v. 1.2.2015

2 Insgesamt ist dieser Anteil bei den Jugendlichen etwa doppelt so hoch wie bei der islamischen Gesamtbevölkerung, das „Potential der für politische Radikalisierung bis hin zu massiver Gewalt ansprechbaren jungen Muslime bei den jungen Menschen ist deutlich größer als in der Allgemeinbevölkerung. Vgl. Muslime in Deutschland – Integration, Integrationshemmnisse, Religion sowie Einstellungen zur Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt, Karin Brettfeld und Peter Wetzels, Hamburg 2007, hrsg. vom Bundesministerium des Innern.

3 Vgl. etwa einen Gelehrten der Universität Ghom, der noch 2015 auf internationalen Konferenzen den umfassenden Charakter der Islamischen Revolution belobigt. Vgl. Taher Armini Golestani, Imam Khomeini, Islamic Revolution of Iran and Islamic Awakening, in: http://www.imam-khomeini.com/web1/english/showitem.aspx?cid=2483&pid=2835“Imam Khomeini (r), who revived the political Islam and called it as a pure Mohammedan Islam, harmonized between politics and religion and brought Islam back in the heart of society and politics. …Characteristics of the Islamic Revolution. The Islamic revolution presents a comprehensive and multi-dimensional system in areas of religion, politics, economy society and culture. It will also further raise awareness among the oppressed and the deprived and creates suitable ground for self-awareness and self-reliance, self-confidence and the Islamic awakening. Islamic revolution also emphasizes the significance of freedom movements, including Islamic and anti-colonial struggle as new players in international system.”

 


 

4 Ednan Aslan, Islamische Theologie fußt auf Gewalt, in: Bonner General-Anzeiger v. 4.2.2015.

5 Patrick Becker und Steffen Jöris, Der Ruf des Jenseits, in: Christ in der Gegenwart v. 18.1.2015.

6 Johannes Röser, Der Gott des Gemetzels in der Stadt ohne Gott, in: Christ in der Gegenwart, 18.1.2015

7 Heinz Theisen, Nach der Überdehnung. Die Grenzen des Westens und die Koexistenz der Kulturen, 3.Aufl. Berlin 2014.

8 Josef Freise, Mouhanad Khorchide, Wertebildung durch Religionen in der pluralen Gesellschaft: ein Fazit, in: dies., (Hrsg), Wertedialog der Religionen. Überlegungen und Erfahrungen zu Bildung, Seelsorge, Sozialer Arbeit und Wissenschaft, Freiburg 2014, S. 353ff.

9 Armin G. Wildfeuer, „Du sollst nicht morden“! - Das biblische Tötungsverbot und die besondere Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens im Ethos der Menschenrechte, in: Elisabeth Jünemann, Heinz Theisen (Hrsg), Zehn Gebote für Europa. Der Dekalog und die europäische Wertegemeinschaft, Erkelenz 2009, S. 113ff.

10 Youssef Courbage, Emmanuel Todd, Die unaufhaltsame Revolution. Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern, München 2008. Laut einer aktuellen Umfrage in 16 arabischen Ländern halten unter den Jugendlichen 46 Prozent der Befragten traditionelle Werte für überholt, 2011 hatten dies nur 17 Prozent angegeben. Der Einfluss von Familie und Religion nimmt ab. Nur noch 56 Prozent sagen, die Religion habe einen starken Einfluss auf sie, im Vorjahr waren es noch 69 Prozent gewesen. Die Anziehungskraft der Vereinigten Arabischen Emirate ist weiter gestiegen. 39 Prozent der Jugendlichen gaben an, in ihnen leben zu wollen. Auf Platz zwei liegen die Vereinigten Staaten von Amerika mit 21 Prozent. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8.4.2014.

11 Volker Perthes, Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen. München 2011, S. 208ff..

12 Vgl. hierzu ausführlich Heinz Theisen, Der Westen und sein Naher Osten. Vom Kampf der Kulturen zum Kampf um die Zivilisation, Olzog edition, Reinbek 2015.