Prof. Dr. Heinz Theisen

Politikwissenschaftler

Ein Europa, das schützt

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Von der großen Entgrenzung zu neuen Begrenzungen im Zeitalter der Deglobalisierung

Die Weltpolitik vernichtet die Länder, die ihr geistig nicht gewachsen sind.
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes

Durch seine geostrategische, geistige und demografische Lage ist Europa weitaus stärker gefährdet als andere liberaldemokratische Staaten in Nordamerika, Ozeanien und Ostasien. Europa wird durch Islamisten, autoritäre Diktaturen, hybride Demokraturen, Anarchie an seinen Rändern und wirtschaftlich durch den politischen Kapitalismus Chinas in einer Weise herausgefordert, die ein gemeinsamen Handeln gegenüber den von außen kommenden Mächten notwendig macht. Davon ist die Europäische Union weit entfernt. Jenes aus der mangelnden Handlungsfähigkeit resultierende Machtvakuum zieht fast naturgesetzmäßig neue Herausforderer an.

Anders als im Kalten Krieg sind die Europäer tief gespalten darüber, wie sie auf diese Bedrohungen reagieren sollen, ja schon darüber, ob es diese Bedrohungen überhaupt gibt. Die gesellschaftliche Polarisierung geht nicht zuletzt entlang der Frage, ob globale Probleme wie die ›Klimakatastrophe‹ oder die eingangs genannter politischer Gegner- und Feindschaften unsere Stabilität und Wohlstand herausfordern.

Über diese Spaltung hat die ›offene Gesellschaft‹ ihre wichtigste Erkenntnis- und Problemlösungsmethode verloren. Im ›Kampf gegen rechts‹ werden lediglich Symptome benannt und diffamiert, worüber jede gemeinsame Suche nach Antworten unterbunden bleibt. Der innere Kampf gegen vergleichsweise harmlose Gegner verdrängt die äußeren Bedrohungen und vergrößert das Handlungs- und Machtvakuum. Es wird nicht einmal zwischen denjenigen differenziert, die als Konservative Demokratie bewahren und denjenigen, die als Rechtsextreme Demokratie bekämpfen wollen. Der antitotalitäre Grundkonsens, wonach alle Demokraten sich gemeinsam gegen jede Form von Totalitarismus – auch den religiösen – gemeinsam zur Wehr setzen sollten, ist verloren gegangen.

Eine sowohl gegenüber dem freien Welthandel als auch gegenüber Migranten aus fremden Kulturen offene Europäische Union ist Teil des Globalisierungs- und Entgrenzungsdramas. Nach dem Untergang des auf Mauern und Begrenzungen angewiesenen Sowjetsystems nahmen die Entgrenzungen in einer Weise zu, dass im Gegenzug nach neuen Abgrenzungen zwischen und in den Nationalstaaten gerufen wurde. Weltoffene Global Player und die nach Schutz vor zu viel Offenheit rufenden Local Player stehen sich unvermittelt gegenüber. Sowohl Globalisten als auch Nationalisten und Separatisten dekonstruieren die westliche Kultur und die internationalen Strukturen von EU und Nato. Der gemeinsame Schutz unserer ideellen und materiellen Güter ist auf diese Weise in Gefahr.

Dekonstruktionen im postmodernen Kulturmarxismus

Nach dem Untergang des Sowjetsystems wurde der Kapitalismus weltweit zum allein vorherrschenden Modell. Von daher mussten sich die utopischen Energien, die vordem im materialistischen Marxismus gebunden waren, neue Wege wie die einer Fixierung auf kulturelle Identitäten suchen. Statt einer durch die Globalisierung irreal gewordenen sozialen Gleichheit wird die Gleichheit in der kulturellen Vielfalt zum erlösenden Ziel verklärt.

In postmoderner Beliebigkeit und unter Verlust jeglicher Rangordnung wird die eigene Kultur in der Vielfalt der Kulturen zur Disposition gestellt. Schon die Selbstbehauptung des Eigenen gilt als moralisch zweifelhaft. Die postmoderne These einer moralischen Gleichheit in der Vielfalt untergräbt jede ernsthafte Forderung nach Integration, die allenfalls noch als Angebot statthaft ist. Das weltoffene Verbot jeder Ausgrenzung gewährt selbst erklärten Feinden der liberalen Gesellschaft Aufnahme. Die alten Begriffe helfen längst nicht mehr zu begreifen. Die Kritik am Islam gilt als phobisch oder gar als rassistisch.

Vom Marxismus übrig geblieben ist die Unterteilung der Welt in Unterdrückte und Unterdrücker. Statt des Heils der klassenlosen Gesellschaft erwartet uns in Zukunft das Unheil der Klimakatastrophe. Für eine religionssoziologische Betrachtung – so Norbert Bolz – liegt der Zusammenhang zwischen Utopie und Dystopie auf der Hand. Weil die Hoffnung auf Erlösung enttäuscht wurde, verdienen wir die Verdammnis.

Die kulturmarxistischen Anteile gewinnen gegenüber dem postmodernen Relativismus an Einfluss, wenn junge Eiferer das geistige Vakuum nicht mehr ertragen und es mit moralistischem Gut oder Böse aufladen. In einer humanitären Ersatzreligion werden die ›Verdammten dieser Erde‹ zu den neuen Gekreuzigten und damit zu neuen Heilsbringern. Dies entspricht den gnostisch-messianischen Anteilen von Christentum und Marxismus, denen zufolge die Letzten die Ersten sein werden. Da die westlichen Unterschichten als vom Konsumismus korrumpiert gelten und keine revolutionären Energien zeigen, gelten Migranten als Verbündete im Kampf gegen den ›Weißen Mann‹, gegen die Eliten des alten Westens.

Der globalistische Kampf gegen das Eigene

Die Übel in der Vielfalt – wie etwa die massive Korruption der Eliten in Afrika oder die Unterdrückung der Frauen in der islamischen Welt – wird nicht mehr auf den Kapitalismus, sondern auf unterdrückerische Kultur des ›Weißen Mannes‹ zurückgeführt. Auf diese Weise gelten selbst islamistische Feinde noch als Opfer.

Globalisten ordnen die eigenen Rechte den Pflichten gegenüber der globalen Allmende nach und heben den Westen in der Menschheit auf. Nicht der Staatsbürger, sondern ›der Mensch‹ ist jetzt Träger aller Rechte. An die Stelle des Patriotismus und des Gemeinwohls tritt die Kardinaltugend der Weltoffenheit. Problematisch ist an diesem Idealismus zunächst, dass er von anderen Mächten und Kulturkreisen selten geteilt, aber oft ausgenutzt wird.

Nach innen erhöht die multikulturelle Vielfalt zwar Buntheit und Kreativität, vor allem in der globalisierten Ökonomie, gefährdet aber längst schon den selbstständigen Mittelstand, all jene Local Player, die sich vom umgrenzenden Staat Schutz gegenüber einem entgrenzten Wettbewerb der Produkte und auf dem Arbeitsmarkt erhofft hatten.

Die humanitären Impulse des Globalismus dominieren selbst die neue Enzyklika des Papstes, die statt einer christlichen eine globale Ethik propagiert. Damit findet er Zustimmung bei Imamen und der chinesischen Regierung, aber die Nöte verfolgter Christen in deren Regimen wird schmählich übergangen. Loyalität mit der ganzen Welt bedeutet Illoyalität mit dem Eigenen.

Für den ungewöhnlichen Drang zum Selbstopfer finden sich in der Geschichte nur Beispiele im Rahmen religiösen Eiferertums. Das religiöse Vakuum im profanierten Westen scheint einen ersatzreligiösen Humanitarismus ohne Gott hervorgebracht zu haben, ein Luxurieren der besseren Stände, welches jedoch bei den schwächeren, auf umgrenzenden Schutz angewiesenen Teilen der Bevölkerung wenig Zustimmung findet. Als Protektionisten fordern sie den Schutz des Eigenen, eine in Evolution und Geschichte immer angestrebte Selbstbehauptung des Einzelnen und seiner Gemeinschaft.

Auch der Nationalismus dekonstruiert Europa und den Westen

Niall Ferguson sieht in der entfesselten Globalisierung, in der die Gewinner alles bekommen, den Hauptgrund für die Zerstörung der alten Weltordnung. Die freiheitliche Welthandelsordnung sei nie mehr als eine Übereinkunft der Eliten zur Förderung ihrer globalen Interessen gewesen. Die Europäische Union stehe vor dem Zerfall, weil sie vor lauter ›Weltoffenheit‹ die Schutzordnung der Nationalstaaten unterminiere, ohne selbst ausreichenden Schutz zu bieten.

Im Gegensatz zu den ›Nazis‹, mit denen Globalisten sie gerne vergleichen, tragen die Protektionisten defensiven Charakter. Gleichwohl drohen sie Nullsummenspiele hervorzutreiben. Eine ›völkische‹ Zusammengehörigkeit ist in den multikulturellen Realitäten des westlichen Europas reine Nostalgie. Das Volk ist zudem selten einig und muss durch Gewaltenteilung eingehegt und kontrolliert werden. Das Volk ist ein Konstrukt, welches immer neu definiert werden muss, am leichtesten – wie im Viervölkerstaat der Schweiz – durch das gemeinsame Schutzbedürfnis gegen sie umgebende Großmächte.

Nationale und globale Perspektiven drohen gleichermaßen die internationale Ebene zu übergehen. Der National-Globalismus mancher Brexiter erhoffte sich eine bessere Anschlussfähigkeit an die Globalität. Der humanitäre National-Globalismus in Deutschland nimmt Flüchtlinge gegen den Willen der anderen europäischen Länder auf. Damit untergräbt er Möglichkeiten einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik.

Wenn sich bis weit in die SPD-Spitze hinein Vorstellungen von Deutschland als nuklearfreier Zone und einer einseitigen Aufgabe der nuklearen Abschreckung durchsetzen, kann von glaubwürdiger Abschreckung in Europa keine Rede sein. Ohne diese aber hat die europäische Außenpolitik kein Fundament, zumal wenn die USA ihren Nuklearschirm für Europa aufgeben sollte.

Nach seinem Austritt braucht sich Großbritannien keine Vorschriften mehr aus Brüssel machen zu lassen, dafür umso mehr aus Washington, das wiederum die letzte Bastion vor einer Abhängigkeit von Peking ist. Während die USA auf ihre Selbstbehauptungsfähigkeit vertrauen können, schrumpfen die kleinen europäischen Nationen zu Spielbällen der Weltpolitik. Wie ungeschützt ein Land allein globalen Problemen ausgeliefert ist, zeigen die Einwanderungsbewegungen. Während die Einwanderung aus den EU-Staaten nach Großbritannien im Vergleich zu 2015/16 wie erwünscht auf weniger als die Hälfte zurückgegangen ist, ist sie dafür aus Nicht-EU-Ländern drastisch angestiegen.

Nach der ziemlich weit fortgeschrittenen Dekonstruktion von Kultur und Gesellschaft verbleibt aber noch die Aufgabe einer Dekonstruktion des Staates, deren Träger in Armee und Polizei ins Visier genommen werden. Staatliche Grenzen galten lange als Anachronismen. Die Corona-Pandemie zeigt hingegen, dass die Globalisierungsdynamik aufhaltbar ist und die arbeitsteilige Warenproduktion auch funktioniert, wenn Grenzen für Menschen geschlossen sind. Und sie zeigt, dass im Ernstfall nur die Infrastruktur der Nationalstaaten hilft. Der globalisierte Virus hat den Nationalstaat rehabilitiert. Gesundheitskontrollen an Grenzen gelten nicht mehr als ›nationalistisch‹, sondern als legitime Form der Vorsicht.

Dieser ist aber angesichts der vielen globalen Interdependenzen nicht mehr ausreichend. Selbst Deutschland als größter Staat der EU wäre, gegenüber den Großraummächten ohne nennenswerten Einfluss. So vorrangig die europäischen Nationalstaaten bei der Bewältigung innerer Herausforderungen sein sollten, so dringlich sind sie nach außen auf internationale Bündnisse angewiesen. Die in der europäischen Außenpolitik geforderte Einstimmigkeit macht aber ein gemeinsames Vorgehen gegenüber den unfairen Handelspraktiken Chinas unmöglich. Sie ist durch das chinesische Engagement in Griechenland, Ungarn und Italien beizeiten unterlaufen worden. An einer Restrukturierung der EU führt daher kein Weg vorbei.

Zur Restrukturierung Europas: Vielfalt nach innen und Einheit nach außen

Wie weit sich die EU immer noch von den äußeren Bedrohungen entfernt glaubt, zeigte sich bei ihrem Einstieg in die Transfer- und Schuldenunion. Den astronomischen Ausgaben stehen Einsparungen bei der Frontex-Grenzsicherung gegenüber, die bis 2027 um 43 Prozent gekürzt wurden. Statt wie ursprünglich geplant 10,3 Milliarden Euro soll die Agentur nur noch 5,9 Milliarden erhalten.

Zumal die deutsche Außenpolitik bekennt sich zum Multilateralismus, der mit allen und jedem unterschiedslos kooperieren möchte, ob mit den USA, China und dem Iran, mit Israel und den Palästinensern. Im Grunde beruht der Multilateralismus auf der Idee des herrschaftsfreien Dialogs und der Kraft des besseren Arguments. Doch ach, wenn es um die unmittelbaren Überlebensbedingungen geht, hilft kein Dialog, sondern geht es um Alles oder Nichts, um Leben oder Tod und spätestens dann beginnt die Unterscheidung nach Freund und Feind, siegt Carl Schmitt über Jürgen Habermas.

Dem gemeinsamen Haus der Europäischen Union droht auch deshalb Zerfall, weil die Union in ihrer Offenheit die Schutzordnung der Nationalstaaten unterminiert, ohne selbst ausreichenden Schutz zu bieten: sie verfügt über keine gemeinsame Verteidigungs- oder Außenpolitik und über keine kontrollfähige Grenzsicherung.

Weder erlaubt der Atomwaffensperrvertrag die Schaffung einer eigenen europäischen Nuklearstreitmacht, noch ist die nukleare Verfügungsgewalt über nationale Potentiale teilbar. Eine Alternative dazu wäre eine – so Peter Seidel – kraftvolle deutsche nukleare deutsche Sicherheitspolitik zusammen mit Frankreich und Großbritannien in einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft.

Nationalstaaten sind zwar unverzichtbare Bausteine, jedoch noch kein schützendes Gebäude. In einem ›Europa, das schützt‹ müssten sich Nationalstaaten, Europäische Union und Nato in ihren Aufgaben gegenseitig ergänzen. Die Mitte zwischen Globalismus und Nationalismus liegt in großregionalen Zusammenschlüssen. Bei den USA, China, Indien und Russland handelt es sich um als Nationalstaaten organisierte Imperien.

Im Rahmen des Binnenmarkts wäre eine Selbstbehauptung gegenüber imperialen Wettbewerbern wie China und den USA möglich. Die Europäische Union müsste sich so strukturieren, dass sie als ein konföderiertes, nach innen die nationale Vielfalt respektierendes und dafür nach außen geeintes Europa auftreten kann. Statt eines Euros, der zusammenzwingt, was nicht zusammengehört, würde eine Europäische Verteidigung nach außen schützen, was kulturell und politisch zusammengehört.

Seit Thomas Hobbes herrscht in der Staatstheorie Konsens, dass Sicherheit die erste und oberste Staatsaufgabe ist. Der Leviathan soll die Menschen voreinander und sie gemeinsam gegen auswärtige Gegner schützen. Voreinander hieße auch, dass im Rahmen der Europäischen Union keine Piratennester geduldet werden dürfen, die mit Niedrigstbesteuerung Global Player wie Amazon anziehen, die dann die steuerzahlenden Local Player des ortsgebundenen Mittelstandes unterlaufen.

Europäische Entwicklungshilfe sollte sich statt an globalen Visionen an eigenen Schutzinteressen ausrichten. Die militärische Vorfeldsicherung begänne nicht am Hindukusch, sondern am Mittelmeer. In einer multipolaren Ordnung müssen sich die Mächte auf ihre eigene Hemisphäre begrenzen und diese behaupten. Diese Abkehr von universalistischen Vorstellungen würde Spannungen mit Russland reduzieren. Das gemeinsame Ziel einer Selbstbehauptung könnte die Spaltungen des Westens nach Nationalisten und Internationalisten relativieren, indem sich jede Ebene der ihr spezifischen Schutzaufgabe widmet, aber auch nur dieser.

Der Westen in der multipolaren Weltordnung

Die westlichen Mächte umfassen mit Europa, Nordamerika, Ozeanien, Südkorea und Japan weniger als 1,5 Milliarden Menschen und stehen damit 7,8 Milliarden Menschen auf der Welt gegenüber. In der multipolaren Welt braucht Europa weniger gute Beziehungen zum Iran als zu den USA. Eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft würde als Pfeiler in der Nato sowohl die eigene Verantwortlichkeit als auch das Bündnis stärken.

Sobald der westliche Universalismus überwunden ist, kann die Nato sich auf die Eindämmung des Universalismus der Anderen konzentrieren. Dies gilt auch für die Ausgriffe der neo-osmanischen Türkei, deren Nato-Mitgliedschaft heute eher zur Überdehnung und Auflösung als zur Selbstbehauptung des Westens beiträgt. Eine Nato, die schützt, würde die Spaltungen zwischen den USA und den Europäern und ein Europa, das schützt, würde innere Spaltungen zwischen Globalisten und Nationalisten aufzuheben helfen.

Die akute Aufgabe Europas liegt im Aufbau einer Asyl- und Migrationspolitik im Rahmen einer Strategie von Selbstbegrenzung und Selbstbehauptung. Das Verhältnis zwischen dem zu offenen und orientierungslosen Europa, dem nicht zuletzt durch die westlichen Interventionen der letzten Jahrzehnte destabilisierten Nahen Osten und dem unter Bevölkerungsexplosion und Armut leidenden Nordafrika muss in seinen Zusammenhängen geordnet werden.

Dem ›globalen Engagement‹ haftet Größenwahn an. Europa sollte sich auf den Mittelmeerraum, auf den Balkan, die Levante und Nordafrika konzentrieren. Mit Aufbauhilfen für Berufsausbildung, Infrastruktur und Produktionsstätten ließe sich die Großregion und damit unsere Grenzen eher stabilisieren als mit der Gießkanne von Entwicklungsprojekten für die ganze Welt.

In der wissensbasierten Weltwirtschaft wird Knowhow zum entscheidenden Produktionsfaktor, was zu einem Umdenken in der Migrations- und Integrationspolitik führen sollte. Würden die Flüchtlingslager im Nahen Osten gemäß dem Vorschlag von Paul Collier zu Sonderwirtschaftszonen ausgebaut, könnten dort Ausbildungshilfen der westlichen Länder einsetzen. Statt riesige Ausgaben in für West und Ost quälenden Integrationsversuchen zu verzehren, ließen sich konsumtive soziale Kosten in ökonomische Investitionen vor Ort umleiten. Es müsste bei jeder Hilfe klargestellt werden, dass Teilhabe an den Früchten der westlichen Zivilisation auch Teilnahme an deren Voraussetzungen erfordert.

Der alte Kampf um Territorien und Glaubensbekenntnisse wird vom Ringen um die Teilhabe an den Funktionssystemen des Zivilisationsprozesses abgelöst. Die Hinwendung von immer mehr arabischen Ländern gen Israel weist in diese Richtung. Dieser Trend zur Zivilisierung von Kulturen bedeutet zugleich eine Chance für die Europäer, ihre wissenschaftlich-technischen Kompetenzen für eine wissensbasierte Wirtschaft zu nutzen.

Rekultivierung Europas in einer bürgerlichen Mitte

Der Verlust unserer Mitte drückt sich im Niedergang der Mittelschichten aus. Von oben und unten gleichermaßen unter Druck gesetzt, blutet die Mittelschicht aus. Die Zuviel- und die Nichtsbesitzer diktieren das Programm. Mit der bürgerlichen Mitte drohen auch die staatsbürgerlichen Gegenseitigkeiten verloren zu gehen.

In den Verträgen der EU durfte bekanntlich das Christentum keine Erwähnung finden, um nicht die religiösen Gefühle anderer zu verletzen. Damit wurde unsere gemeinsame Kultur, die sicherlich nicht nur, aber auch in der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums in Europa liegt, verleugnet. Der belgische Historiker David Engels fordert an die Stelle der kulturrelativistischen Europäischen Union eine Europäische Konföderation zu setzen. (vgl. Präambel zur Verfassung einer Europäischen Konföderation. Entwurf von David Engels, in: Cato, Nr.4, 2020, S.62ff). In dieser sollten christliches und aufklärerisches Erbe sowie Tradition und Moderne zusammenfinden.

Ein Kulturchristentum würde gewachsene Traditionen, eine Orientierung am Naturrecht und die gesetzlich zum Ausdruck gebrachte höhere Wertschätzung der Familie gegenüber anderen Lebensformen einschließen. Ein europäischer Konservatismus wäre weniger an der relativ jungen europäischen Erfindung des Nationalstaats als an der Bewahrung der in zwei Jahrtausenden gewachsenen europäischen Kultur ausgerichtet.

Bürger kommt von Burg. Die politische Mitte ist von früheren bürgerlichen Kräften verlassen worden. Eine neuerliche Inanspruchnahme der Mitte würde wieder den Willen zum Ausgleich von Gegensätzen zu Gegenseitigkeiten erfordern. Sie stünde in der Tradition unserer Kultur des ergänzenden Ausgleichs von Religion und Politik in der säkularen Gesellschaft, von Kapital und Arbeit in der Sozialen Marktwirtschaft, von Rechten und Pflichten, Individualität und Gemeinwohl in der bürgerlichen Gesellschaft, von Macht und Recht im demokratischen Rechtsstaat, von Fördern und Fordern in der Sozial- und Bildungspolitik, von Teilnahme und Teilhabe in der Integration. Die Asyl- und Aufnahmepolitik müsste an einem Ausgleich zwischen humanitären und eigenen Interessen und in der Klimapolitik am Ausgleich zwischen kurz- und langfristigen Interessen ausgerichtet sein.

Es gehört zur Dialektik der Geschichte, dass es in der Regel tragischer Ereignisse bedarf, um grundlegende Veränderungen auf den Weg zu bringen. Der dekadente Mangel an Selbstbehauptung der Europäer lässt sich nur aus den Zeiten fast luxurierender Sekurität erklären. Doch der Regenbogen des Multikulturalismus verbleicht mit jedem islamistischen Terroranschlag.

Ausblick auf ein begrenztes Europa

In dem neuen Pluriversum raumbezogener Mächte müssen Grenzen gezogen, anerkannt und gegebenenfalls verteidigt werden. Ohne die Unterscheidung von Freunden, Gegnern und Feinden ist keine schützende Politik möglich. Der Rückzug der USA auf die eigenen Interessen war angesichts der vorangegangenen Verstrickungen des Interventionismus verständlich. Er drohte aber seinerseits mit der Missachtung von Drückebergern wie Deutschland den Zusammenhalt des Westens vorzeitig aufzugeben. Umso mehr sind jetzt die Europäer gefordert, mit dem Aufbau eines zweiten Pfeilers in der Nato dem Westen neue Stabilität zu verleihen. Mit dem ihnen wohlgesonnenen Joe Biden sollte ein Anfang beim Wiederaufbau des Westens gelingen.

Im Gegensatz zu Deutschland, in dem nur eine Minderheit sich zur protektionistischen Politik bekennt, sind in anderen westlichen Staaten stärkere Kräfte vorhanden, die sich schützen wollen. In den USA fordern erhebliche Teile der Bevölkerung die Selbstbehauptung des Eigenen. Diese Koalition reicht von Bewahrern des Christentums bis zu denjenigen, die ihre Industriesubstanz und bürgerlichen Freiheiten bewahren wollen. Kanada und Australien haben schon lange ihre Einwanderungspolitik an eigenen sozialen und wirtschaftlichen Interessen ausgerichtet. In Frankreich und Schweden bemerken auch liberale Regierungen, dass nicht Offenheit gegenüber, sondern Schutz vor dem radikalen Islam gefordert ist.

In Mittelosteuropa erklärt sich die Option für mehr Begrenzung und Abgrenzung aus den Erfahrungen mit dem kommunistischen Internationalismus. Freiheit gilt hier nicht als Selbstverständlichkeit. Merkel kann sich noch immer weltoffen geben und zum UN-Migrationspakt bekennen, weil die geschlossenen Grenzen der Ungarn und Österreicher ihr die Aufgaben der Realitätsbewältigung abgenommen haben.

Wir haben mit den Beschwörungen von Oswald Spengler über den Untergang des Abendlandes begonnen und wir wollen auch mit seiner Aufgabenstellung enden. Jede Form, jede Gestalt – so Spengler – sei Begrenzung. Wie jeder Nationalstaat werden auch die Europäische Union und die Nato ihre Form und Gestalt finden, wenn sie sich zuvor im geistigen und physischen Sinne zu begrenzen verstanden haben.

In der Corona-Pandemie wurde die Welt zum Opfer vorangegangener Entgrenzungen. Die chinesische Regierung ließ wider besseres Wissen den Virus aus Wuhan in die Welt ziehen. Während sie diesen mit totalitären Methoden im eigenen Land in den Griff zu bekommen scheint (oder ihn einfach ignoriert), quält sich der Westen mit den Folgen seiner viel zu offenen Grenzen gegenüber China. Taiwan, Südkorea, Japan und Singapur kannten ihre Pappenheimer und hatten die Grenzen zu China nach ersten Gerüchten umgehend geschlossen.

In Deutschland durften Flüge aus China noch bis Mitte April ohne jede Auflage und Quarantäne-Bestimmungen unsere Offenheit demonstrieren. Umgekehrt werden heute den Bürgern zahllose Grenzen bis in ihre Grundrechte hinein auferlegt. Wenn nach der Pandemie das Nachdenken über die Ursachen der Corona-Pandemie einsetzen sollte, könnte das Zeitalter der Deglobalisierung beginnen.

Ein konföderiertes Europa müsste einen mittleren Platz zwischen Entgrenzung und Begrenzung einnehmen. Ein Rückbau von globalen Lieferketten insbesondere bei sicherheitssensiblen Bereichen der Medizin- oder Digitalwirtschaft bedeutet kein Ende, sondern eine Differenzierung des Freihandels. Je mehr der globale Freihandel von regionalen und bilateralen Handelsverträgen, von protektionistischen Handelsschranken und neuem Merkantilismus abgelöst wird, desto wichtiger wäre es, einem großen Binnenmarkt und mächtigen Handels- und Verteidigungsbündnis anzugehören.

Eine Deglobalisierung würde nicht alle Lieferketten unterbrechen, aber doch in spezifischen, vor allem in sicherheitsrelevanten Fällen die lokale und regionale Wirtschaft vor der weltweiten Konkurrenz schützen. Der globale Wettbewerb erfordert lokale Schonräume – auch zur Vorbereitung künftiger Wettbewerbsfähigkeit. Der Widerspruch von Entgrenzung und Begrenzung, von Schutz und Offenheit löst sich in zeitlicher Reihenfolge auf.