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Heinz Theisen

Die Grenzen des Westens und die Koexistenz der Kulturen

Veröffentlicht in: Mut. Zeitschrift für Kultur, Politik und Geschichte 1/2014

Rückzug und Selbstbehauptung in der Weltunordnung

Nach der Überdehnung
Universalismus als Ideologie
Rückzug vom Kampf der Kulturen
Rückzug vom Konflikt der Systeme
Paradigmenwechsel im Nahen Osten?
Bündnisse für die Zivilisation
Koexistenz der Kulturen

 

Zu den Hauptursachen der Krise des Westens gehören seine Überdehnungen. Der sowjetische Sozialismus war jahrzehntelang Feind und Grenze des Westens gewesen. Nach seinem Untergang fühlte sich der Westen seiner Begrenzungen enthoben und strebte nicht weniger als die weltweite Ausbreitung seiner Strukturen und Werte an, mehr noch, er fühlte sich dazu moralisch verpflichtet. Anders als im Kolonialismus ging es dabei um die Universalität von Demokratie und Menschenrechten. Durch eine Demokratisierung des Mittleren Ostens wollten die USA sowohl ihre Sicherheit erhöhen als auch der Welt eine neue Ordnung geben. Dieser Versuch einer Quadratur des politischen Globus ist gescheitert. Die Interventionen in Afghanistan und im Irak haben vieles nur verschlimmert, in Libyen haben zehn NATO-Staaten Gaddhafi zu beseitigen geholfen und damit der Anarchie und dem Islamismus in der Sahel-Zone den Weg bereitet, was wiederum den Einsatz in Mali notwendig machte.

Zur Tragik von interkulturellen Interventionen gehört, dass gerade freie Wahlen Islamisten und illiberale Demokratien hervorbringen. In Clankulturen gilt nur das Mehrheitsprinzip, nicht aber der Schutz von Minderheiten und Grundrechten. Das mit westlicher Hilfe frei gewählte Parlament Afghanistans führte die Scharia einschließlich der Todesstrafe für Konvertiten ein. Im demokratisierten Irak wurden die Christen als „Freunde des Westens“ verfolgt, nicht vom irakischen Staat, sondern von religiösen Fanatikern, denen gegenüber dieser Staat ohnmächtig ist. Auch der wieder säkulare ägyptische Staat scheint nicht in der Lage, die koptischen Christen zu schützen.

Heute wissen wir, dass der Kampf gegen den Terror nicht gegen „Schurkenstaaten“ zu gewinnen ist, sondern auf gleichsam chirurgische Weise, nicht zuletzt in der eigenen Hemisphäre, geführt werden muss. Und wir müssen lernen, dass unsere Kräfte durch ideelle Ziele überspannt werden können. Die Überdehnung der politischen, kulturellen, militärischen und schließlich der finanziellen Möglichkeiten folgten aufeinander.

Parallel zu den Universalisierungsversuchen unserer Werte und Strukturen kam es zur Entgrenzung der Wirtschaftsräume. Die Globalisierung hat Milliarden von Menschen zu Wohlstand verholfen, sie fordert allerdings einen hohen Preis von den bisher Wohlhabenden. Globalisierung bedeutet den tendenziell grenzenlosen Austausch von Gütern und Arbeitskräften - und damit tendenziell grenzenlosen Wettbewerb. Die Schutzlosigkeit derjenigen wächst, die keine Global Player sind und die nicht auf den Wogen der Globalisierung zu schwimmen verstehen. Menschenwanderungen drohen schließlich die Möglichkeiten des national finanzierten Sozialstaates zu überdehnen.

Die Europäische Union bietet durch ihre forcierte Erweiterung zu wenig Schutz vor der Globalisierung, weil sie ein Teil von ihr zu werden droht. Mit den orthodox geprägten Mitgliedsländern Griechenland, Zypern, Rumänien und Bulgarien hat sie ihre vormals westlichen Grenzen überschritten, oft zu beiderseitigem Nachteil. Vergleicht man die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei mit dem in die Eurozone integrierten, finanziell zunächst verwöhnten, dann gegängelten und heute überforderten Griechenland, so wachsen die Zweifel, ob solch eine Integration nicht letztlich zum Schaden strukturell schwach aufgestellter Länder gereicht. In Rumänien wandern die Ärzte des Landes in Richtung Westeuropa ab, andererseits sind die Hälfte der rumänischen Zuwanderer ohne Berufsabschluss und fallen den Sozialsystemen der Empfängerländer zur Last. Die EU wird durch ihre Südost-Erweiterung größer, ihr Zusammenhalt und ihre Handlungsfähigkeit geringer.

Die neue Weltunordnung zeigt sich auch in den abstrusen Bündnissen der USA. Sie bilden eine Allianz mit dem Irak, das seinerseits über das Schiitentum mit dem Iran liiert ist, dem größten Feind der USA. Die USA pflegen ein Bündnis mit Saudi-Arabien, dessen reaktionäres Königshaus Schutzgelder an die Salafisten zahlt, die auch in Deutschland die freiheitliche Ordnung in Frage stellen. Und sie inspirieren die Dschihadisten, die jeden Amerikaner töten möchten. Hier schlägt die Weltunordnung ins Absurde um. Die Abhörpraxis der NSA zeigen einmal mehr, dass die USA nicht mehr zwischen Freund und Feind und nicht zwischen wesentlich und unwesentlich zu unterscheiden wissen. Ihre Geheimdienste erinnern an manche Empiristen im Wissenschaftsbetrieb: sie wissen viel und verstehen wenig.

Universalismus als Ideologie

Die Konstellationen im Nahen Osten sind mit westlichen Kategorien kaum zu begreifen. Wenn Öl-Emirate sowohl den Putsch gegen Muslimbrüder in Kairo als auch islamistische Rebellen gegen die Diktatur in Syrien finanzieren, verstricken sich innenpolitische Ziele mit konfessionspolitischen Machtkämpfen zur Unentwirrbarkeit. Die Naivität des Westens, der seine politischen Begriffe auf andere Kulturen zu übertragen versucht, verstrickt sich in der orientalischen Komplexität.

Die im Fall Syriens erkennbar gewordene Lernunwilligkeit der westlichen Eliten, als eine Zeitung nach der anderen uns in eine humanitäre Intervention hineintreiben wollten, erklärt sich aus ihrer universalistischen Ideologie. Die heutige Generation der Regierenden und Kommentierenden ist, allerdings zunehmend unglücklich, in die universalistischen Begriffe ihrer Studienzeit verliebt. Vor der Jahrtausendwende galt es als ausgemacht, dass das „Ende der Geschichte“ in der Universalität von Demokratie und Menschenrechten zu suchen ist. Diese Wunschvorstellungen von der „Einen Welt“ oder anderer menschheitlicher Kategorien verleugnen aber die fortbestehenden Unterschiede und Konflikte zwischen den Kulturen. Sie verleugnen vor allem die Dialektik des Universalismus, dessen Vorzeitigkeit und Übertreibung partikularistische Gegenbewegungen, seien sie religiöser oder politischer Art, hervortreiben.

Außerhalb der westlichen Welt beherrschen nicht Gesellschaften, sondern Gemeinschaften das öffentliche Leben. So genannte Clankulturen organisieren sich nach partikularen Prinzipien und bilden daher keine nach universellen rechtlichen Prinzipien organisierte Gesellschaft. Die Strukturen der Demokratie richten in Clankulturen oft mehr Schaden als Nutzen an, treiben Oligarchentum, Stammesfehden, Separatismus und schlimmstenfalls wie etwa heute im Irak heillose Bürgerkriege hervor. Wir kommen an der unangenehmen Einsicht nicht vorbei, dass Demokratie eine kulturgebundene und nur in bestimmter Reihenfolge zu realisierende Errungenschaft ist. Sie ist gewissermaßen das Dach, welches man nicht vor dem Gebäude der Aufklärung, Rechtsstaatlichkeit und zivilgesellschaftlicher Strukturen aufbauen kann. Bei einem Besuch der Vereinigten Arabischen Emirate, gleich hinter dem Irak, wird einem klar, das die passende Regierungsform von Clankulturen eher die Monarchie ist, bei der uns nur zu hoffen bleibt, dass der jeweilige Scheich sie – wie im Falle der Emirate - im Sinne einer gutmütigen Gouvernanz ausübt.

Warum hat der ideologisierte Universalismus trotz aller Misserfolge nach wie vor so viele Befürworter? Er ist tief in unseren christlichen und aufklärerischen Genen verankert, die heute oft nur in ihrer Gutmenschenversion weiterleben, die nicht mehr um die Sündhaftigkeit des Menschen bzw. um die Begrenztheit seiner Vernunft wissen.

Politisch wird die Ideologie des Universalismus von einer Großen Koalition zwischen den an grenzenlosen Märkten interessierten Neoliberalen und den an grenzenloser Solidarität interessierten politischen Linken gestützt. Konservative, die in realpolitischer Tradition an die Grenzen des Möglichen erinnern, werden von Wächterräten diffamiert und aus dem Diskurs abgedrängt. Im Ergebnis zerstört man darüber den Diskurs. Der Universalismus endet im allgemeinen Illusionismus des Gutmenschentums.

Die innenpolitische Kehrseite des Universalismus liegt in einem Kulturrelativismus, der alle Menschen für integrationsfähig hält, selbst wenn diese es gar nicht sein wollen. Um die Grenzen des Eigenen zu verstehen, müsste unsere Kultur definiert und damit begrenzt werden. Stattdessen wird nur das Verbindende und nicht das Trennende zwischen den Kulturen betont. Der Fremde gilt allenfalls als scheinbar oder vorübergehend fremd. In Wirklichkeit, so heißt es, seien sie so wie wir, auch wenn sie es noch nicht wissen. Fremd ist aber das, was wir nicht verstehen. Würden wir es verstehen, wäre es nicht mehr fremd. Wenn wir das Fremde zu vereinnahmen versuchen, verletzen wir dessen Eigenwertigkeit und treiben dessen Fundamentalisierung oft erst hervor.

Kulturen sind Werteordnungen. In der Behauptung einer letztlichen Gemeinsamkeit der Werte geht jede Differenzierung verloren. Während in der westlichen Kultur die Würde und die Freiheit des Individuums den höchsten Rang einnehmen, sind diese, auch wenn sie ebenfalls eine gewisse Geltung haben, in der islamischen Kultur den Pflichten gegenüber Gott und der Gemeinschaft nachgeordnet. Dies festzustellen ist keine Diskriminierung, nicht einmal eine Bewertung, man muss aber die Grenzen zwischen Kulturen zur Kenntnis nehmen, wenn man Kämpfe zwischen ihnen vermeiden will.

Das Leben der einfachen Leute vollzieht sich weniger in abstrakten und daher vermeintlich universal gültigen Begriffen als in den Bedrängnissen und Grenzen des Alltags. Sie sind oft auf den Schutz von Grenzen angewiesen. Der Sozialstaat ist nur in seinem nationalstaatlichen Rahmen finanzierbar und nur in diesem Rahmen dauerhaft legitimierbar. Die politische Linke verleugnet das Dilemma zwischen Eigeninteressen und humanitären menschheitlichen Idealen. Sie transzendiert das Dilemma durch Staatsverschuldung, um es allen Seiten Recht zu machen. Aber auch diese Praxis stößt derzeit an Grenzen.

Rückzug vom Kampf der Kulturen

Der Abschied vom Universalismus wäre eine Hinwendung zur realpolitischen Skepsis. In ihr geht es weder um verabsolutierte Werte noch um klare Lösungen, sondern nur noch um Kompromisse im Sinne des kleineren Übels. Diese defensive Haltung passt zu den neuen Machtverhältnissen auf der Welt. Der Westen umfasst mit Europa, Nordamerika und Ozeanien gerade mal ein Zehntel der Weltbevölkerung.

Seine Kraft reicht, um sich als Interventionsmacht in die Wirren anderer Kulturen hineinzubegeben, für eine Ordnung der Welt reicht sie nicht mehr aus. Es verbietet sich längst, von „Nation Building“ und von der Rolle als „Weltpolizist“ zu schwärmen. Allenfalls ist noch eine Art Feuerwehreinsatz denkbar, in dem im Rahmen von UN-Einsätzen Brände gelöscht, Brandmauern gezogen und in dem man - schnell wie die Feuerwehr - wieder verschwindet.

Schöne Worte wie „Dialog“ und „Integration“ greifen im Kampf gegen Islamisten zu kurz. Klüger erscheint mir der Rat, den uns Samuel Huntington schon vor Jahren gegeben hatte, dem Kampf der Kulturen außerhalb der eigenen Sphäre auszuweichen und ihm im eigenen Land entgegenzutreten. Der bisherige Weg, Universalismus nach außen und Relativismus nach innen, ist nicht einmal mehr bezahlbar.

Die Überdehnung und Überschuldung der USA erklärt ihren dramatischen Verlust an innerem Konsens. Der innere Kulturkampf in den USA dreht sich vor allem um die Rolle des Staates. Seine Überdehnung wird primär an sozialen Ausgaben festgemacht. Hauptursache sind jedoch die Kosten der Kriege und der weltweiten Präsenz. Die Verteidigungsausgaben der USA belaufen sich auf jährlich 700 Milliarden Dollar, das ist mehr als China, Russland, Japan, Indien und die restliche NATO zusammen ausgeben. Diese Summe sollte sich ohne Gefahr auf 600 Milliarden und später weiter verringern lassen. Die USA sollten frei werdende Mittel in die Anwerbung gut ausgebildeter Fachkräfte, in ihre Ausbildungssysteme und in eine Modernisierung ihrer Transport- und Energieinfrastruktur investieren, die Energieeffizienz erhöhen und die Abhängigkeit vom Öl und von der islamischen Welt verringern.

Es war noch nie klug, gegen die USA zu wetten. Auch in den dreißiger und siebziger Jahren waren die USA in einer schweren Krise und haben sich neu erfunden. Im Gegensatz zu Europa setzt ihre Einwanderungspolitik auf Qualifikation und Loyalität. Auch die demografische Situation ist ungleich günstiger. Sie beherrschen die Kommunikationstechnologien und könnten aufgrund ihrer technischen Möglichkeiten auch bald von den Energieströmen des Nahen und Mittleren Ostens unabhängig werden. Fracking ist die zivilisatorische Antwort auf den Zusammenprall der Kulturen. Zwischen 2020 und 2030 wird Nordamerika seinen Erdölbedarf aus eigenen Beständen decken. Ihr technologisches Know-how hätte sie damit aus ihren kulturellen Verstrickungen befreit.

Rückzug vom Konflikt der Systeme

Der Westen sollte sich vom Konflikt der politischen Systeme, vor allem gegenüber Russland und China, zurückziehen. Seine politische Codierung nach „demokratisch/undemokratisch“ vermag die heutige Welt weder zu erklären noch zu strukturieren. Die romantische Überhöhung der „Aufständischen“ in Syrien zu „Freiheitskämpfern“ oder die Verurteilung des Militärputsches in Ägypten sind eindimensional am Ideal der Demokratie orientiert. Die USA haben sich dort mit ihrer Unterstützung „demokratischer“ Islamisten zwischen alle Stühle gesetzt. Auch die Versuche der EU, auf die Ereignisse im Sinne demokratischer Werte Einfluss zu nehmen, gehen an der neuen Konfliktlinie „Säkularismus gegen Islamismus“ vorbei.

Demokratisierung bedeutet noch lange keine Verwestlichung im Sinne von Liberalisierung. Ob in der Türkei oder in Russland, bei den meisten nichtwestlichen Demokratien handelt es sich nur um Wahldemokratien, in denen Minderheitenrechte und Grundrechte keine wirkliche Rolle spielen. Der Sinn der Demokratie ist jedoch die Freiheit und nicht die Mehrheitsherrschaft, die eine Form der Unterdrückung ist. Demokratie darf nicht die einzige Fortschrittskategorie sein. Zumindest gleich wichtig sind Säkularität und die mit ihr einhergehenden Möglichkeit weiterer Ausdifferenzierungen und der individuellen Teilhabe.

Die Unterscheidung nach „demokratisch/undemokratisch“ hindert daran, systemübergreifend Koalitionen mit nichtdemokratischen, aber zivilisierten Staaten einzugehen. Die weltweiten Kämpfe zwischen Säkularisten und Islamisten erfordern eine Zusammenarbeit auch mit den nichtliberalen Regimen, die durch ihr Interesse an Stabilität und Entwicklung gleichwohl der zivilisierten Hemisphäre zuzurechnen sind. Und die EU sollte in ihrem Glashaus nicht mit Steinen werfen, sie ähnelt längst eher einer Erziehungs- und Angleichungsagentur als einer Demokratie.

Die unverhältnismäßigen Strafen der russischen Justiz gegenüber Pussy Riot dürfen uns nicht hindern, gemeinsam mit Russland den Islamismus zu bekämpfen. Womöglich wären die aus Tschetschenien stammenden Attentäter von Boston rechtzeitig aufgegriffen worden, wenn die Geheimdienste der USA mit russischen Geheimdiensten kooperiert hätten. Solange für eine Koalition gegen den Islamismus eine liberaldemokratische Wertegemeinschaft gefordert wird, bleiben große Teile der Welt eher Gegner. Solange sich Russland und der Westen blockierten, gab es keine Chance für eine Einhegung des Konflikts in Syrien.

Paradigmenwechsel im Nahen Osten

Im Nahen Osten hat der Kampf der Kulturen seine Fortsetzung in einem Kampf in den Kulturen gefunden. Im Zuge der Islamisierung sind die uralten Spannungen zwischen Schiiten und den Sunniten im syrischen Stellvertreterkrieg voll entbrannt. Der Kulturkampf zwischen Israel und den Palästinensern ist darüber in den Hintergrund getreten, bleibt aber solange unlösbar, wie kein Ausweg aus den kollektivistischen Paradigmen der beteiligten Kontrahenten gefunden wird.

Im Lichte des dialektischen Denkens könnte sich gerade hinter dieser Ausweglosigkeit eine List der Geschichte verbergen. Je weiter die Selbstzerstörung der kollektiven politischen und religiösen Paradigmen voranschreitet, desto unausweichlicher wird der Übergang zu den neuen Paradigmen der Individualisierung und der Zivilisierung. Der Weltgeist schreitet laut Hegel nicht linear, sondern über den Umweg der Selbstzerstörung des Alten voran. Erst aus der Selbstzerstörung des Nationalismus im Zweiten Weltkrieg konnte das postnationale Europa hervorgehen.

Diese düstere Dialektik von Katastrophe und Veränderung kann allenfalls durch einen rechtzeitigen Generationenwechsel umgangen werden. Dieser ist in der arabischen Welt schon aus demografischen Gründen unabweisbar. Von den 80 Millionen Ägyptern ist heute die Hälfte jünger als 25 Jahre. Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen wird im ganzen Nahen Osten und Nordafrika bis zum Jahr 2020 auf 100 Millionen geschätzt. Was dies für Europa bedeutet, zeigen die Bilder aus Lampedusa. Europa droht in den Sog der nahöstlichen Ausweglosigkeiten hineingezogen zu werden.

Ihre Lage zwingt die Jugend, sofern sie nicht in die Mythen der Vergangenheit entflieht, zu einem Wandel der Perspektiven. Der Bedarf an weiteren kollektivistischen Visionen, seien sie politischer oder religiöser Art, scheint bei vielen von ihnen in der Tat gedeckt. Dies gilt auch für die Demokratisierungsideologie des Westens. Sie rufen nach dem Recht auf eine eigene Zukunft und wollen sich die Welt selbst zu eigen machen. Dieser Individualismus ist das Neue an der „Arabellion“. Er unterscheidet sich von den alten säkularen Kräften des arabischen Sozialismus oder Nationalismus. Eine fortschreitende Individualisierung hatte schon das Sowjetsystem unterhöhlt und sie könnte auch den Islamismus überwinden helfen.

Die lange politische Apathie der meisten Jugendlichen geht über ihre E-Politisierung zu Ende. Statt neuer Kollektive bilden sie noch Konnektive. Noch gehört ihnen nicht die Mehrheit, aber demografisch gehört ihnen die Zukunft. Es gibt heute unter den arabischen Jugendlichen eine messbare Aufbruchsstimmung. 74 Prozent der Jugendlichen erwarten, dass die „besten Tage“ vor ihnen liegen. 87 Prozent sind stolzer als zu Beginn des Jahres 2011. Die wirtschaftlichen Lebensbedingungen sind ihnen wichtiger als die Demokratie.

Eine Erklärung für diesen seltsamen Optimismus lautet: der Geist der Selbstbestimmung ist aus der Flasche, worüber ein Ausweg aus dem Kampf der Kulturen erkennbar wird. Die Soft Power des Westens scheint einen indirekten Siegeszug anzutreten, parallel zum direkten Niedergang seiner Hard Power. Nicht durch die Proklamation seiner Werte und Strukturen, sondern durch die Hintertür der wissenschaftlich-technischen Zivilisationsmittel schreiten Verwestlichungen voran. Wer von ihrer Rationalität dauerhaft profitieren will, kommt nicht umhin, ihre Spielregeln zu beachten. Eine Nebenfolge der instrumentellen Vernunft in den Natur- und Technikwissenschaften liegt in der Neutralisierung kollektiver Identitäten. Wissenschaftler aus unterschiedlichen Kulturen, die sich in einem Forschungslabor über Konflikte ihrer Herkunftsregionen streiten, sind kaum vorstellbar.

In der arabischen Welt gibt es heute eine Gründungswelle von Universitäten. Trotz der Islamisierung nimmt die Zahl weiblicher Studierender im Iran deutlich zu, an vielen Universitäten des Mittleren Ostens stellen sie bereits die Mehrheit. In den letzten Dekaden sind weltweit mehr Menschen ausgebildet worden denn je zuvor in der Geschichte. Die neuen Universitäten konzentrieren sich mehr auf das individuelle Schicksal ihrer Studierenden als auf deren Nation und Religion. Sie bilden ihre Absolventen für den Weltmarkt aus. Selbst die Populärkultur und die seichten Aufklärungsprozesse der Massenmedien dienen oft der Dekonstruierung und Relativierung nationaler, kultureller und religiöser Paradigmen. „Verstehen, um darüber zu stehen“, so sollte heute der Wahlspruch der Aufklärung lauten.

Bündnisse für die Zivilisation

Die Hoffnungen, dass eine „multipolare Weltordnung“ an die Stelle der bi- oder der kurzzeitigen unipolaren amerikanischen Weltordnung tritt, haben sich bislang nicht erfüllt. Der Aufstieg neuer Machtpole hat gerade erst begonnen. China, Russland, Indien, Brasilien, Südafrika, die „BRICS“ mögen gute Länder für Investments sein, aber ihre politische Strahlkraft reicht nicht für eine Weltordnung. Der UN-Sicherheitsrat ist aufgrund der Konflikte zwischen den westlichen Mitgliedern auf der einen Seite und Russland und China auf der anderen Seite nicht mehr handlungsfähig.

Immerhin: Die von G8 auf G20 erweiterten Weltrunden konnten im Falle der Weltfinanzkrise 2008 das Schlimmste verhindern. Dabei ging es aber nicht um politische Ordnungen, sondern nur um die Behauptung von Funktionen in den weltweit agierenden Funktionssystemen der Zivilisation. Die bloße Funktion könnte der gemeinsame Minimalkonsens zwischen Nationen und Religionen, Kulturen und Systemen sein. Globale Konvergenzen werden nicht in den politischen und religiösen Systemen, sondern im Rahmen der Funktionssysteme von Bildung, Wissenschaft, Technik und Wirtschaft erkennbar. Zivilisatorische Konvergenzen setzen umso mehr den Respekt vor den Grenzen der Kulturen voraus.

Die Grenzen des Wachstums liegen nicht in natürlichen Ressourcen, die vom Wissenstand abhängig sind, sondern in der Ausdehnung unserer normativen Systeme. Die Demokratie ist das Dach, das Gebäude muss nach den Stockwerken Aufklärung, Wissenschaft, Recht und Wirtschaft aufgebaut werden. Europa hat einen langen Weg zur Zivilisierung seiner Kulturen und Nationen hinter sich. Bei den Übergängen von der Sakralität zur Säkularität, von der Stammeskultur zur Gesellschaft, von Fundamentalismen und Ideologien zu deren Relativierung und Ausdifferenzierung handelt es sich einerseits um evolutionäre und andererseits um dialektische Prozesse. Sie waren nicht vor schrecklichen Rückschlägen in die Barbarei gefeit. Erst am Ende dieser Prozesse stand die liberale Demokratie.

Koexistenz der Kulturen

Aus den gegenläufigen Tendenzen von den Kulturen und der Zivilisation ließe sich eine Doppelstrategie für den Westen ableiten: Selbstbegrenzung durch Abkehr vom Kampf der Kulturen sowie von den Konflikten der politischen Systeme und Selbstbehauptung durch eine Konzentration auf die Entwicklungen in den zivilisatorischen Funktionssystemen, in denen der Westen nach wie vor führend ist.

Im Zeitalter nach der politischen Überdehnung mehren sich die Anzeichen für einen Rückzug des Westens. Die Ausbremsung des Bombardements auf Syrien durch das Britische Parlament, dem ältesten Parlament der Welt, hat dem Parlamentarismus Würde zurückgegeben. Sie war der Anfang vom Ende einer universalistisch motivierten Interventionspolitik. Die konstruktive Rolle Russlands im Fall Syriens läutet wiederum den Übergang vom Konflikt der politischen Systeme zur gegenseitigen Kooperation ein.

Es ist auf Dauer schon analytisch wenig fruchtbar, jede Erinnerung an unsere Grenzen und jede Anmahnung unserer eigenen Interessen als „Populismus“ zu denunzieren. Ob Ängste nur geschürt werden oder ob sie berechtigt sind, dies eben wäre ein sinnvoller Gegenstand politischer Diskurse. Jedes Gebilde, was sich erhalten will, muss seine Grenzen erkennen und daraus selbsterhaltende Konsequenzen ziehen.

Nationalisten, die nur das Eigene sehen, sind ein Gegenextrem zu Überdehnung und Universalismus, aber nicht die Lösung. Zwischen den Universalisten und Nationalisten brauchen wir Realisten, die Grenzen erkennen, die sowohl das Eigene als auch das Andere sehen. Statt von Gemeinsamkeiten zu schwärmen, müssen wir aus den Unterschieden Gegenseitigkeiten ableiten. Früher sprach man nicht von Universalisten, sondern von Internationalisten, es ging ihnen um das Zwischen. Das „Prinzip Gegenseitigkeit“ sollte daher an die Stelle der ideellen Prinzipien „Hoffnung“ und „Verantwortung“ treten. Wer im universalistischen Geist immer mehr gibt als er nimmt, macht irgendwann Bankrott. Wer hilft, ohne Selbsthilfe zu fordern, scheitert in aller Regel. Wer Toleranz gegenüber Intoleranz gewährt, überdehnt diese und stellt sie damit in Frage.

Eine neue Gegenseitigkeit zwischen den Kulturen begänne mit ihrer Koexistenz. Diese wäre vergleichbar mit jener ideologischen Koexistenz von West und Ost im Kalten Krieg. Der ideologische Anspruch beider Seiten wurde darin zurückgestellt. Die Welt wurde nur stabil und für die Zukunft offen gehalten. Im ideologisch unlösbaren Antagonismus des Ost-West-Konflikts war kein anderer Weg verblieben als ihn durch die Gleichzeitigkeit von Abschreckung, Eindämmung und Entspannung offen zu halten. Handelsverlockungen trugen dazu bei, den Feind zum Gegner und stellenweise sogar zum Partner zu entwickeln.

Wir können unsere Grenzen räumlich und thematisch nur begrenzt überschreiten. Auf dem Balkan kann der Westen lediglich Frieden und Stabilität, aber keine Entwicklung erzwingen. Diese müsste von innen kommen. Die Aufnahme dieser Länder in die Europäische Union, wie sie Kommissionspräsident Barroso als Ziel beteuert hat, wäre die finale Überdehnung der Europäischen Union, die ihrer Auflösung gleichkäme. Die Selbstbegrenzung der Union auf ihren funktions- und handlungsfähigen Kern erfordert dagegen eine institutionelle Grenzziehung zwischen Kernunion und Rändern. Eine funktionsfähige Kernunion könnte den Rändern Europas besser helfen als dies bei gegenseitiger Überforderung der Fall sein kann.

Gegenseitigkeit und Differenzierung ermöglichen die Kooperation spezifischer Funktionssysteme. Sofern sich der Westen politisch einzugrenzen und darüber zu behaupten versteht, könnte er über seine zivilisatorischen Funktionssysteme noch viel zur Entwicklung einer neuen Weltordnung beitragen. Der Weg zur Selbstbehauptung des Westens führt von der Universalität zur Koexistenz, vom Ideal der Gemeinsamkeit zum Realismus der Gegenseitigkeit, von Illusionen zu Einsichten in die Grenzen des Möglichen.