Prof. Dr. Heinz Theisen

Politikwissenschaftler

Christen in Palästina

Veröffentlicht in: Stimmen der Zeit online Mai 2014      Druckversion

Die Christen in Palästina zwischen Islamismus, Nationalismus und Teilhabe an der Globalisierung

Halbe Anerkennung der Christen: Koexistenz statt Integration
Vorzeitige Demokratisierungen gefährden die Christen
Das Schwinden des Christentums in Palästina
Die Notwendigkeit eines Paradigmenwandels
Europa und der Nahe Osten
Christen zwischen alten und neuen Paradigmen

 

Im Heiligen Land verdichten und verstricken sich mit den drei monotheistischen Religionen zugleich westliche und nahöstliche Identitäten und Interessen. Der Ausweg aus dem damit verbundenen Kampf dieser Kulturen und zunehmend auch der Konfessionen innerhalb der Kulturen könnte allenfalls in einem Paradigmenwechsel liegen: weg von kollektiven religiösen und politischen Identitäten, hin zur individuellen Teilhabe an meist säkularen Globalisierungsprozessen. Insbesondere in Wissenschaft, Kommunikationstechnologie und Wirtschaft vollziehen sich diese zunehmend losgelöst von Religion und Politik.

Ein Paradigma ist nach Thomas S. Kuhn eine Gesamtkonstellation, die die Welt interpretiert, gewissermaßen eine Brille, durch die man die Welt sieht. Ein neues Paradigma löst nicht das alte Problem, sondern transzendiert es, indem es eine andere Perspektive einnimmt. Das individualistische Paradigma dringt, wie auch in den Aufständen der „Arabellion“ zu erkennen war, parallel zu den Islamisierungsprozessen vor. Es sollte schon deshalb nicht unterschätzt werden weil es Jahrzehnte zuvor erheblich dazu beigetragen hat, das Sowjetsystem zu unterhöhlen. In den Golf-Emiraten hat es schon erstaunliche Fortschritte gebracht.

Im „Heiligen Land“ dominieren dagegen noch kulturalistische Konvulsionen und damit kollektivistische Paradigmen. Im Kampf zwischen Islamismus und Säkularismus, Kollektivismus und Individualismus könnte den Christen des Nahen Ostens eine Schlüsselrolle zukommen. Obwohl sie derzeit von Islamisten erheblich unter Druck gesetzt werden, könnten sie nach dem Kampf der Kulturen und Konfessionen durch ihre Weltanschauung, ihre zahlreichen Beiträge zum Bildungswesen und ihre Verbindungen zu anderen Kulturkreisen eine wichtige Rolle für eine bessere Integration des Nahen Ostens in die Globalisierung spielen.

Halbe Anerkennung der Christen: Koexistenz statt Integration

Die Christen des Nahen Ostens stehen zwischen den einander bekämpfenden Kulturen und Konfessionen. Viele wandern aus, worüber das Christentum seinen traditionellen Platz im Orient zu verlieren droht.

Dass Christen Opfer der neuen Islamisierungswelle werden, hat tiefgreifende Ursachen. Juden und Christen gelten im Islam als Empfänger der biblischen Offenbarung, die sich allerdings nicht entschließen konnten, die endgültige Offenbarung, den Islam, anzunehmen. Schon im Koran wird den Christen daher keine Hoffnung auf Integration gemacht. Sie sind den Muslimen nicht ganz fremd, haben aber keine volle Gemeinschaft mit ihnen. Deswegen schreibt der Koran vor, die Juden und die Christen nicht auszuschließen, aber auch nicht zu integrieren. Es kann demnach keine volle Gemeinschaft geben. Im Hinblick auf schwierige politische Zeiten wird das Abstandsgebot stärker. „O ihr, die ihr glaubt, nehmt euch nicht die Juden und die Christen zu Freunden. Sie sind untereinander Freunde. Wer von euch sie zu Freunden nimmt gehört zu ihnen…“ (5,51).

Diese halbe Anerkennung als Andersgläubige durchzieht das Verhältnis des Islams zu den „Schriftgläubigen“ bis in die Gegenwart. Sie ermöglicht eine Strategie, die man durchaus als „clever“ bezeichnen muss. Alles Nützliche wird von den „Schutzbefohlenen“ angenommen, ob in Form ihres Know-How, von Schutzgebühren und Sondersteuern, von Entwicklungshilfe oder Integrationsbemühungen. Die Doppelstrategie von Distanz und Nutzung zeigt sich schon darin, dass Muslime christliche Frauen heiraten dürfen, da die Kinder Muslime sein werden. Umgekehrt ist den muslimischen Frauen das Fremdheiraten untersagt.

In den Personenstandsfragen gilt in Palästina zwar unterschiedliches Recht für die Religionsgemeinschaften. Im Konfliktfall bi-religiöser Ehen, bei Scheidungen und dem Sorgerecht für Kinder, erhält das islamische Recht Vorrang. Der Übertritt zum Islam ist für viele Christen eine Möglichkeit, in den Genuss aller Rechte zu gelangen und von den Vorteilen des islamischen Rechts zu profitieren.

Angesichts solchen Vorgaben wundert es nicht, dass es auch heute zwischen christlichen und muslimischen Palästinensern nicht um „Integration“, sondern nur um Koexistenz geht. Schon der Begriff „Integration“ ist im Nahen Osten ungebräuchlich. Aber immerhin leben sie seit Jahrhunderten nach eingespielten Regeln nebeneinander. Über die Bedingungen dieser Koexistenz lässt sich reden, wo Angebote in die Waagschale zu werfen haben.

Die Koexistenz zwischen Christentum und Islam kennt die Spielregeln eines Verzichts auf zu große Nähe. Interkulturelle und interreligiöse Dialoge werden fast nur von außen initiiert. Solange der Islam nicht einmal zwischen Schiiten und Sunniten koexistenzfähig ist, sollten die Hoffnungen auf Integration und Koexistenz bezüglich des Judentums und Christentums nicht übertrieben werden.

Der Islam lässt sich nach einer rein religiösen Spielart der Koran- und Hadith-Gläubigkeit, einem politischen Scharia-Islamismus und nach dem Alltagsislam unterscheiden. Letzterer erhebt keine Ansprüche gegen andere und mit ihm sind Formen alltäglicher Integration möglich. Diese finden ihre Grenze, sobald religiöse und rechtlich-politische Kategorien in den Vordergrund rücken.

Vorzeitige Demokratisierungen gefährden die Christen

An den vorzeitigen Demokratisierungen des Nahen Ostens trägt der Westen erhebliche Mitschuld. Vor allem die militärisch erzwungene Demokratisierung des Iraks hat den alten Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten freigelegt. Die Versuche des Westens zur Universalisierung von Demokratie und Menschenrechten haben dazu beigetragen, säkulare Diktaturen zu beseitigen. Die daraus hervorgegangenen Konfessions- und Stammeskriege gefährden die Christen, am schlimmsten im Irak. Weder der demokratische Staat noch das westliche Militär standen ihnen bei. Wo mit Säkularität und Minderheitenschutz grundlegende Voraussetzungen der liberalen Demokratie fehlen, bietet eine reine Mehrheitsherrschaft sogar Legitimationen zur Unterdrückung von Minderheiten.

Während Russland den orthodoxen Christen Syriens zu helfen versucht, glaubten viele im Westen, dass es sich bei den Kämpfern gegen „den Diktator“ um Demokraten handeln müsse. Die romantische Überhöhung der „Aufständischen“ in Syrien zu „Freiheitskämpfern“ oder die Verurteilung des Militärputsches in Ägypten sind eindimensional am Ideal der Demokratie orientiert. Die USA haben sich dort mit ihrer Unterstützung „demokratischer“ Islamisten zwischen alle Stühle gesetzt. Die zunehmende Christenverfolgung in Teilen der islamischen Welt erfolgt weniger durch die Staaten als durch islamistische Bewegungen, vor denen die durch vorschnelle und voraussetzungsfreie Demokratisierung geschwächten Staatsmächte keinen Schutz gewähren.

Die politische Codierung nach „demokratisch/undemokratisch“ vermag die heutige Welt weder zu erklären noch zu strukturieren. Der Sinn der Demokratie ist die Freiheit, nicht die Mehrheitsherrschaft. Wichtiger als ein demokratischer ist daher ein säkularer Staat. Die Demokratie ist das Dach. Bevor es aufgesetzt werden kann, müssen die Stockwerke Bildung und Ausbildung und die Minima einer guten Gouvernanz aufgebaut worden sein.

Die „Zweistaatenlösung“ würde wahrscheinlich, zumal in der Verbindung mit einer Demokratisierung, eine Katastrophe für die Christen Palästinas bedeuten. In einem palästinensischen Staat würden die Konflikte zwischen Säkularisten und Islamisten, zwischen Fatah und Hamas, wieder ausbrechen, die internationalen Hilfen und die Pilgerströme gingen zurück. Angesichts des Zerfalls der Nationalstaaten in dieser Region können die Palästinenser froh sein, keinen eigenen Staat zu haben. Die vom Westen erzwungenen Verhandlungen über eine „Zwei-Staatenlösung“ sollten zu Verhandlungen über konkrete Teilhabechancen umfunktioniert werden. Statt „Land für Frieden“ ginge es dann um Geld und Know-How für den Wirtschaftsfrieden.

Das Schwinden der Christen in Palästina

Um 1900 waren noch etwa 30 Prozent der Palästinenser Christen. Auch wenn die absolute Zahl kaum gesunken ist – heute stellen die Christen in den palästinensischen Gebieten nur noch 1,37 Prozent der Bevölkerung, womit ein massiver Einflussverlust verbunden ist. In dem einstmals christlich geprägten Bethlehem (bis zu 80 Prozent) umfassen sie noch 28,26 Prozent. Im Bethlehem-Distrikt, der die Flüchtlingslager mit einbezieht, stellen sie nur noch 12,73 Prozent der Bevölkerung.1

Die Standarderklärung, wonach die Auswanderung der Christen ihre Hauptursache in der israelischen Okkupation habe, ist nicht überzeugend. Ihr Rückgang ist im Kontext des Schwindens der Christenheit im gesamten Raum zu sehen. So ist zum Beispiel die Zahl der Christen im einstmals christlichen Libanon von 84 Prozent im Jahr 1926 auf heute 30,3 Prozent gesunken. Zu den religiösen Verfolgungen kommen andere Gründe für die Auswanderung hinzu: mangelnde Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die niedrigere Geburtenrate, eine bessere Ausbildung, welche Auswanderung erleichtert, die schwindenden Heiratschancen für Christinnen. Natürlich ist die Abwanderung oft auch von ökonomischen Motiven geleitet, die sich mit den anderen Motiven verschränken.

In den Gesprächen, die ich während eines Forschungsaufenthaltes an der Universität Bethlehem mit Christen in Bethlehem führte, irritierte mich die provinzielle politische Sicht ihrer eigenen Lage. Sie nehmen sich nicht als Teil der Gesamtentwicklung des Nahen Ostens wahr und insistieren auf ihrer begünstigten Ausnahmelage, die sich schon bei einer Machtübernahme der Hamas ändern könnte.

Es ist ebenso provinziell, ausschließlich den politischen Konflikt mit Israel als Ursache aller Probleme zu sehen. Damit ignorieren sie sowohl die islamistische Bedrohung als auch die Chancen von Globalisierungsprozessen, die sich durch eine Kooperation mit Israel ergeben würden. Zumal für arbeitslose Jugendliche wäre Teilhabe am israelischen Arbeitsmarkt wichtiger als ein palästinensischer Nationalstaat.

Die Christen Palästinas sind heute schon im Gaza-Streifen, wo sie sich den Muslimbrüdern zu unterwerfen haben, von der Islamisierung betroffen. In der Westbank werden sie dagegen toleriert, im Raum Bethlehem spielen sie sogar eine geachtete und aktive Rolle im öffentlichen Leben. Die von internationaler Hilfe getragenen Ausbildungsstätten leiten zum Paradigma individueller Teilhabe über. Die in Ost-Jerusalem lebenden Palästinenser könnten wiederum eine Brücke zwischen Israel und Palästina bilden. Wenn man die Lebenssituation in beiden Teilen Palästinas miteinander vergleicht, kann man die Bedeutung der Alternative von Islamisierung und Teilhabe an der Globalisierung ermessen.

Im Gazastreifen leben weniger als 3000 Christen unter 1,5 Millionen Muslimen. Die Hamas verfügte umfangreiche Islamisierungsmaßnahmen im öffentlichen Leben, insbesondere in der Bildungspolitik. Schon die Schulkinder werden auf ihren Kurs eingeschworen. Alle, auch christliche Mädchen müssen an öffentlichen Schulen islamische Kleidung tragen. Die im Gazastreifen regierende Hamas tolerieren Christen und ihre salafistischen Feinde. Nur wer sich anpasst, kann auf Duldung hoffen.

In Bethlehem wird einem von kirchlichen Funktionsträgern fast immer versichert, dass es keine Probleme im Verhältnis von Christen und Muslimen gibt. Die Berufschristen wollen nicht, dass noch mehr Christen das Land verlassen. Auf Symposien versichern sie sich mit muslimischen Kollegen ihre gegenseitige Toleranz und pflegen die übliche Konferenzjovialität. Auf der Straße und im Berufsalltag geht es dagegen abgrenzend und oft auch feindselig zu. Diese doppelte Wahrnehmung widerholt sich oft, je nachdem man das Thema in Gruppen- oder Einzelgesprächen zur Sprache bringt.

Die Christen dürfen sich in Bethlehem nützlich machen und werden dafür mit Toleranz und auch mit Respekt belohnt. Sie spielen im Sozial- und Bildungswesen eine Rolle, die dem Anspruch „Salz der Erde“ zu sein, gerecht zu werden versucht. 41 Prozent der sozialen Einrichtungen und 38 Prozent der Schulen sind in der Westbank in christlicher Hand. Als Geburtsort Christi erhält Bethlehem Hilfen aus aller Welt, von denen auch die Muslime profitieren.

Die immer zahlreicher missionierenden Evangelikalen im Heiligen Land gelten als Eindringlinge. Während die traditionellen christlichen Kirchen des Heiligen Landes eine Art Bestandsschutz genießen, gilt dies nicht für die neu hinzugekommenen Evangelikalen nicht. Da sich die Evangelikalen einer bloßen Koexistenz verweigern, gilt für sie die Toleranz gegenüber „Buchbesitzern“ nicht.

Auch wenn es den Christen in Palästina und besonders in Bethlehem besser geht als den meisten Christen in der islamischen Welt, handelt es sich um eine prekäre Koexistenz. Schon durch innerpalästinensische Wanderungsbewegungen wird sie gefährdet. Bethlehem hatte nach 1948 viele Flüchtlinge aufzunehmen, ihre Nachfahren leben noch immer in „Flüchtlingscamps“, bei denen es sich heute um ärmliche Stadtteile handelt. Ihre Integration ist nicht erwünscht. Sie und viele Zuwanderer aus dem streng islamischen Hebron verhalten sich gegenüber den Christen Bethlehems abwertend und legen ein aggressives Sozialverhalten an den Tag. Sie wollen Eroberern gleich Bethlehem unter ihre Kontrolle bringen. Eine Legitimation ihrer Dominanzansprüche liegt in der religiös motivierten Missachtung der Christen.

Seit einigen Jahren kaufen Muslime mit beträchtlichen Geldsummen christliche Souvenirshops auf. Über die Herkunft des Geldes lässt sich spekulieren. Im Ergebnis trägt dies zur Verdrängung des christlichen Mittelstandes bei. An der Islamisierung Bethlehems ändert auch eine alte Proporzregelung nichts, wonach der Bürgermeister immer ein Christ zu sein hat. Seit 2012 ist es eine Bürgermeisterin, Dr. Vera Baboun, die ihr Amt der Proporzregelung der Fatah verdankt und sich als entsprechend linientreu erweist. In einem Gespräch, das wir mit ihr führen konnten, benannte sie ausschließlich die Besatzung und die Einengung Bethlehems durch Mauer und 27 Siedlungen im Verwaltungsbezirk als Auswanderungsursache und am schlechten Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit von 26 Prozent kann damit nicht begründet werden.

In großen Teilen der arabischen Welt ist die wirtschaftliche Lage schlechter als in Bethlehem. Der Wirtschaftsboom im Raum Ramallah ist aus der Kooperation der Autonomiebehörde mit Israel möglich geworden. Aus ökonomischer Perspektive wäre eine Kooperation mit den Israeli und selbst mit den Siedlern vorteilhaft. Wer andere Kategorien wie Land und Ehre, Nation und Konfession für wichtiger erachtet als soziale und ökonomische Kategorien, sollte dies begründen. Über die Hierarchie dieser Werte sollte im Konflikt der Paradigmen gerungen werden.

Säkular-nationalistische Palästinenser sehen die Feindschaft zu Israel als so vorrangig an, dass sie von religiösen Konflikten nichts wissen wollen. Sie interessieren sich demonstrativ nicht für Religion. Aber in Alltagskonflikten zwischen einem Muslim und einem Christen ist es für Muslime selbstverständlich, den Muslim zu unterstützen, unbeschadet des Sachverhalts. Unter den Christen gibt es keinen vergleichbaren Zusammenhalt. Sie sind in der Defensive und vermeiden öffentliche Kritik, weil dies ihre Position weiter verschlechtern könnte.

Die Notwendigkeit eines Paradigmenwandels

Für den Anschluss an die wichtigsten Funktionssysteme der Weltgesellschaft ist die integristische Vermischung von Religion und Politik ein gravierendes Hindernis. Eine säkulare Staatsordnung wäre eine Voraussetzung für erfolgreiche Ausdifferenzierungen von Funktionssystemen wie Wissenschaft und Wirtschaft. Sofern sich Wissenschaft und Wirtschaft religiösen Imperativen unterwerfen, werden sie es nicht weit bringen. Nur in dem Maße, wie sich die Türkei und die Emirate zu verweltlichen verstanden hatten, traten auch ökonomische Erfolge ein.

Auch die politische Verengung auf nationale Aspekte steht der Teilhabe an der Weltgesellschaft entgegen. Die Palästinenser werden dazu erzogen, sich immer nur als Opfer und noch in der dritten Generation nach 1948 als „Flüchtlinge“ zu verstehen. Sie sind das einzige Volk der Welt, welches den Flüchtlingsstatus rechtlich vererbt. Dies ist mit besonderen Alimentierungen durch eine eigene UN-Flüchtlingsorganisation verbunden. Durch diese Multiplizierung der Flüchtlinge mit jeder Generation wird eine politische Friedenslösung mit Israel bewusst verunmöglicht.

Für junge Menschen sind weltweite Kommunikationsmöglichkeiten oft wichtiger als ein eigener Staat. Für zentrale Funktionssysteme spielen nationalstaatliche Grenzen eine immer geringere Rolle.2 Da die meisten Palästinenser nicht nach Israel dürfen (wohl über Jordanien zu anderen Weltregionen), sind globale Austauschprozesse bei Bildung, Wissenschaft, Technik und Wirtschaft für sie besonders bedeutsam. Und in der Tat interessiert sich eine neue Generation in der arabischen Welt weniger für die alten politischen Themen. Wirtschaftliche Lebensbedingungen sind ihnen wichtiger als die Demokratie, der israelisch-palästinensische Konflikt ist nur noch von untergeordneter Bedeutung.3

Ausläufer dieses Paradigmenwandels erkennen wir auch bei den Studierenden in Bethlehem. Die Soft-Power des Westens, seine Populärkultur und hedonistischen Lebensstile scheinen einen weltweiten Siegeszug anzutreten, parallel zu dem Niedergang seiner Hard Power. Nicht durch die Proklamation seiner Werte, sondern durch die Hintertür seiner zivilisatorischen Mittel und Möglichkeiten schreitet die Verwestlichung indirekt voran. Und auch derjenige, der von den Ergebnissen der wissenschaftlich-technischen Rationalität dauerhaft profitieren will, muss ihre Spielregeln beachten und die Bedeutung von Nation und Religion in den Funktionen des Arbeitslebens und des Alltags relativieren.

Sollten sich die neuen Paradigmen durchsetzen, wäre die Frage, wem das Westjordanland gehört, etwa so wichtig wie es heute in Europa die Frage ist, wem das Elsass oder Schlesien gehören. Auf dem Arbeitsmarkt käme es wie vor den Intifadas wieder zur Ergänzung von Low Labour und High Tech. Die Zersplitterung der arabischen Nationen könnte den Weg frei machen für neue Modelle einer Wirtschaftsunion. Dieser strukturelle Paradigmenwandel ist eine Frage der Reihenfolge. Zunächst müssen die wirtschaftlichen Kooperationsformen aufgebaut werden, diese machen gemeinsame rechtliche Regelungen notwendig und danach sind etwaig staatliche Föderationsformen möglich.

Faktisch gibt es über die Währungsunion und andere Hilfen zwischen der Westbank und Israel bereits Vorformen einer Wirtschaftsunion. Hochtechnologie erfordert Kooperation und diese Partnerschaft könnte Israel der wissenschaftlich-technisch wenig entwickelten islamischen Welt anbieten. Fast jeder zweite Israeli hat einen akademischen Abschluss und die neuen Start-UP-Firmen sind Job-Motoren. Die Meerwasserentsalzung hat das Wasserproblem Israels gelöst. Die Teilhabe an ihr wäre für die Palästinenser wichtiger als der Alleinbesitz heiliger Stätten.

Europa und der Nahe Osten

Die zunehmende Christenverfolgung in Teilen der islamischen Welt erfolgt weniger durch die Staaten als durch islamistische Bewegungen, vor denen die Regierungen aber keinen Schutz gewähren. Die Christen im Irak und Syrien sind zwischen die schiitischen und sunnitischen Fronten geraten. Im wieder säkular regierten Ägypten ist selbst die Militärregierung nicht in der Lage, sie vor Extremisten zu schützen. Auf westliche Hilfe durften sie bisher nicht hoffen, weil der Westen sich ideologisch auf die Förderung „der Demokratie“ verlegt hat.

Während sich Russland um die orthodoxen Christen Syriens sorgt und ihnen die russische Staatsbürgerschaft anbietet, unterstützt der Westen eher die islamistischen Rebellen, in dem Kinderglauben, Kämpfer gegen einen Diktator seien Demokraten. Die notorisch kulturinkompetente Europäische Union spielt eine hilflose Rolle im Nahen Osten.

Sie kommt für etwa ein Drittel der Personalkosten der Autonomiebehörde auf. Seit 1994 hat die EU 5,6 Milliarden Euro für die Palästinenser bereitgestellt. Der Europäische Rechnungshof stellte fest, dass in den vergangenen Jahren ist im Gazastreifen Geld an tausende Beamte geflossen sei, die gar nicht zur Arbeit erschienen sind. Als sich Rechnungsprüfer dafür aussprachen, das Programm für öffentliche Bedienstete im Gazastreifen einzustellen, reagierte die EU-Kommission verärgert. Sie wolle die Unterstützung der palästinensischen Beamten beibehalten, denn diese sei ein Schlüsselelement zur Wahrung der Einheit des Palästinenserstaates, zudem seien Menschen ohne Einkommen anfälliger für eine Vereinnahmung durch Extremisten.4

Angesichts dieser Haltung muss das Angebot der EU-Außenminister vom Dezember 2013 beunruhigen, Israel und dem künftigen palästinensischen Staat eine besondere privilegierte Partnerschaft in Aussicht zu stellen. Vorgesehen ist ein Paket aus allgemeiner politischer, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Zusammenarbeit. Beide sollen einen verbesserten Zugang zu den europäischen Märkten gewährt werden und der kulturelle und wirtschaftliche Austausch soll gestärkt werden. Es wird nicht an eine EU-Friedenstruppe gedacht, sondern an Hilfen für die Reform der Sicherheitsapparate.

Es zeigt auch nicht viel Verständnis für die Verwicklungen des Nahen Ostens, wenn die israelischen Siedler in der Westbank als Haupthindernis für jede Friedenslösung dargestellt werden. Diese haben keine Gebiete eines anerkannten, souveränen Staates besetzt. Der Völkerbund, dessen Entscheidungen von der Uno übernommen, werden (vgl. Artikel 80 der Uno-Charta) hatte bestimmt, dass sich Juden in allen Teilen Palästinas ansiedeln können.

Unvergessen ist den Israelis, dass der Rückzug der Siedlungen aus dem Gazastreifen mit Raketenbeschuss quittiert wurde.5 Die gängige Vorbedingung aller Zwei-Staatenlösungen, wonach die Siedler aus der Westbank wegziehen, ist unrealistisch. Der vom israelischen Außenminister Liebermann vorgeschlagene Gebietstausch, wonach palästinensische Gebiete in Israel einem künftigen Palästina zugewiesen werden, wird von den israelischen Palästinensern strikt abgelehnt. Ihnen sind die zivilisatorischen Errungenschaften Israels denn doch wichtiger als nationale und kulturelle Identitäten.

Die vom Westen forcierten politischen Nahostverhandlungen beruhen alle auf irrealen Annahmen. Man wird den Verdacht nicht los, dass die Palästinenser die Verhandlungen primär für die Aufrechterhaltung der westlichen Zahlungsbereitschaft führen.

Christen zwischen alten und neuen Paradigmen

Auch an der christlichen Universität Bethlehem ist Israel das Dauerthema. Selbst die Studierenden aus Ostjerusalem, die immerhin ein Drittel der Studierenden ausmachen, werden gegen Israel indoktriniert. Selbst die Dozenten, die in Ostjerusalem wohnen, beteiligen sich an Boykottaufrufen. Kontakte mit der Hebrew-Universität in Jerusalem, die wir vor jedem Aufenthalt in der Westbank wahrnehmen, werden uns als Kollaboration verübelt.

An der Universität Bethlehem wird viel Wissen erworben, aber das dialektische Einerseits-Andererseits steht noch hinter dem „Wir oder Sie“ des Clandenkens bzw. des nationalen Denkens zurück. Es werden zu wenige Lehrveranstaltungen in Englisch angeboten. Das neue gängige Selbstbild als „Palästinensische Universität“ behindert den Paradigmenwandel.

Auch die christlichen Schulen im Raum Bethlehem bzw. Ostjerusalem sind mit dem Nationalismus ihrer palästinensischen Lehrer konfrontiert. Oft wird hier die Identität auf Kosten der Rationalität gefördert. Die Verweigerung von Dialog und Austausch passt weder zum Anspruch der Wissenschaft noch des Christentums. Statt um Analyse geht es zu oft um Parteinahme. Defizite einzelner Firmen oder Nichtregierungsorganisationen werden pauschal „dem Westen“ angelastet, was einen Mangel an Verständnis für moderne Ausdifferenzierungen signalisiert.

Eine transkulturelle Bildung sollte statt der kollektiven Identitäten, seien es die von Clans, Nation oder Religion, allgemeinmenschliche Werte und spirituelle Weite fördern. Angesichts des Arbeitsmarktes in der arabischen Welt sollten Bildungsstätten immer auch für internationale Aufgaben qualifizieren. Dafür sind weniger spezifische Inhalte als Methodenkompetenz und selbstständiges Denken gefordert.

Christen müssen als universales Gottesvolk kein Land besitzen. Das christliche Versöhnungsgebot steht dem Heiligen Krieg diametral entgegen.6 Im katholischen Völkerrecht stehen die Einzelnen und nicht die Völker und Staaten im Mittelpunkt. Aus der abendländischen Verbindung von Griechentum, Christentum und Aufklärung gingen Universitäten hervor, die eine Grundlage von Entwicklung sind.

Weitere christliche Voraussetzungen für den Paradigmenwandel sind die sozial gelebte Nächstenliebe und auch die Gleichberechtigung von Mann und Frauen. Das Gebot der Feindesliebe ist geradezu pragmatisch, wenn es kein Selbstopfer verlangt, sondern Kompromisse ermöglicht und das Leben erleichtert.7 Die Wertschätzung der Arbeit in der christlichen Soziallehre findet im Wirken der Don-Bosco-Salesianer zugunsten der Berufsausbildung ihren Ausdruck. Allein in Bethlehem ermöglichen sie jährlich über 150 Jugendlichen das Erlernen von Handwerksberufen.

Die Älteren beeilen sich, alle Anzeichen einer Individualisierung als „Egoismus“ zu verdammen. Unsere Kollegen mögen es nicht, dass ihre Studierenden nicht mehr pausenlos politisieren, sich „entsolidarisieren“ oder gar „verwestlichen“. Natürlich droht der Paradigmenwandel oft übertrieben zu werden, wie in Europa, wo Individualismus oft zu Narzissmus und Bindungslosigkeit ausgeufert ist. Diese Gefahr ist im Nahen Osten ein Thema für Übermorgen.

Dem personalen Menschenbild des Christentums zufolge stehen Individualismus und Solidarität, Selbstverantwortung und Sozialverantwortung, Rechte und Pflichten, Teilhabe und Teilnahme in einem Verhältnis der Gegenseitigkeit. Um diese Gegenseitigkeit geht es auch in den Goldenen Regeln eines „Weltethos“. Der Individualismus ist im Westen überentwickelt und wird darüber oft schon zu einem negativen Wert. Im Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ist ein gegenseitiges Lernen zwischen den Kulturen gefordert.8

Aber auch innerhalb des Christentums müssen Weiterentwicklungen angemahnt werden. Den orthodoxen Konfessionen fehlen wichtige aufklärerische und universalistische Elemente. Große prophetische Worte wie die des Kairos-Dokumentes erinnern an die Theologie der Befreiung, aber „die Befreiung“ vieler Menschen Südamerikas von der Armut kam nicht durch „die Gerechtigkeit“, sondern durch mehr Teilhabe an ökonomischen Entwicklungen. Die Christen des Heiligen Landes sollten sich nicht länger als „lebende Steine“ definieren, die es zu konservieren gelte. Mit offensiven Beiträgen zum Paradigmenwandel würden sie mehr Unterstützung generieren und darüber eine Rolle als Brücke zwischen den Kulturen einnehmen können.


 

1 Die wichtigsten Zahlen zur Christenheit in Palästina finden sich in der Dokumentation von Rania Al Quass Collings, Rifat Odeh Kassis, Mitri Raheb, Palestinian Christians in the West Bank. Facts, Figures and Trends, Bethlehem 2012.

2 Vgl. Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 57/1971 und Rudolf Stichweh, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/M 2000.

3 Vgl. Arabische Jugend ist optimistisch. Befragung in 15 Ländern. Lohn ist wichtiger als Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11.4.2013. “82 der Befragten antworteten, einen „fairen Lohn“ zu bekommen sei für sie wichtig. Für 66 Prozent ist ein Eigenheim sehr wichtig, aber nur für 61 Prozent das Leben in einer Demokratie. Die größte Sorge gilt den steigenden Lebenshaltungskosten (62 Prozent), während nur 26 Prozent den Konflikt zwischen den Palästinensern und Israelis für das größte Problem halten“.

4 Süddeutsche Zeitung v.12.12.2013.

5 Arthur Cohn, Der Siedlungsbau ist nicht illegal, in: Cicero v. 9.12.2013

6 Vgl. Sami Adwan, Armin G. Wildfeuer (eds.), Participation and Reconciliation. Preconditions of Justice, Opladen und Farmington Hills, 2011.

7 Arnold Angenendt, Was hat das Christentum Gutes gebracht? in: Christ in der Gegenwart v. 25.8.2013.

8 Hans J. Roth, Die Krise des Westens – eine Krise des Individualismus, Zürich 2013. 112ff.