Prof. Dr. Heinz Theisen

Politikwissenschaftler

Wege zur Selbstbehauptung Europas

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Europa steht gravierenden Herausforderungen gegenüber

Europa sei von den „Bedrohungen der neuen Weltunordnung umgeben“ und stehe unter anderem einer „kulturellen Bedrohung durch den Islamismus und der wirtschaftlichen und politischen Herausforderung durch Supermächte gegenüber. Dazu gehöre zunehmend auch die „digital smarte chinesische Parteidiktatur“.1 Der „relative Niedergang und die inneren Schwächen der liberalen Demokratien“ würden „alte und neue Feinde auf den Plan“ rufen. Es gehe in dieser Lage „längst nicht mehr um die Universalität des Westens, sondern um seine Selbstbehauptung“. 2 Die EU sei jedoch bislang gegenüber „neuen Herausforderungen wie dem religiösen Extremismus, transnationalem Verbrechen, Flucht und Migration […] nicht in der Lage, ja nicht einmal willens […], sich selbst zu behaupten.“3

Die Handlungsunfähigkeit der Politik

Es sei aktuell kein politischer Akteur erkennbar, der der beschriebenen Lage wirksam begegnen könne. Das politische Spektrum sei von zunehmender Polarisierung zwischen den Anhängern eines utopischen Globalismus und dessen „regressiver Abwehr“ geprägt.4

In Deutschland habe in den vergangenen Jahren eine „Flucht aus einer ideologisierten ‚Weltoffenheit'“ zu „regressivem Nationalismus oder gar Regionalismus“ eingesetzt, der „letztlich nur eine romantische Antithese zum utopisch-ortlosen Globalismus“ und seiner Tendenz zur Selbstverleugnung darstelle, die das Streben nach dem Schutz der gewachsenen Völker, Kulturen und Nationen als „Rassismus“ diffamiere und dadurch die „Radikalisierung der Ausgegrenzten“ fördere.5

Ein anhaltender „Kampf gegen Andersdenkende“ destabilisiere freiheitliche Gesellschaften zusätzlich, „weil er nicht einmal zwischen denjenigen differenziert, die als Konservative die Demokratie bewahren, und denjenigen, die als Rechtsextreme die Demokratie bekämpfen wollen.“6

Ideologien der Selbstverleugnung, Mangel an Realismus und Elitenversagen

Die größte Bedrohung Europas stelle die Selbstgefälligkeit jener dar, die die oben beschriebenen Bedrohungen „nicht wahrhaben wollen“ und stattdessen die einzige Gefahr in „Rechtspopulismus und Nationalismus“ sehen, „also in den Symptomen und nicht in den Ursachen“.7

Auf der Grundlage universalistischer Ideologie sei es unmöglich, „einen Schutz vor dem weltweiten Wettbewerb und anderen Auswirkungen der Globalisierung zu propagieren“.8 Der „notwendige Diskurs über den Schutz der offenen Gesellschaft“ werde verschleppt und Bedrohungen würden verdrängt.

Dies werde auch daran erkennbar, dass die Bundesregierung im Zusammenhang mit islamistischen Terroranschlägen von „unbegreiflichen Gewalttaten“ spreche und nicht die hinter ihnen stehende Ideologie und Bewegung als Hauptproblem wahrnehme, sondern die Reaktionen darauf. Auf die eigentliche Bedrohung, in diesem Fall die durch Islamisten, antworte man allenfalls mit ideologischer „Überhöhung der Offenheit“. Der Diskussion über „die notwendige Unterscheidung, wogegen man offen und wogegen man lieber verschlossen sein sollte“, verweigere man sich konsequent. Dies mache deutlich, dass Deutschland sich „analytisch in keinen guten Händen“ befinde.9

Die Schwäche Europas liege zudem „im Glauben, sich nicht wehren, sich nicht begrenzen und sich nicht behaupten zu müssen“:

  • Es gebe in Europa ein „Elitenversagen“, das die Folge des Eindringens der „esoterischen Theoriemoden aus den Geistes- und Sozialwissenschaften“ in die Eliten sei. Man sorge sich „lieber über geschlechterneutrale Sprache und über die Toilettenordnung für 72 Geschlechter als über die akuten Bedrohungen des europäischen Wertekanons“. „Diskurse über Selbstbehauptung“ seien „durch die Axiome der politischen Korrektheit, einer Mischung aus kulturmarxistischem Gleichheitswahn und postmoderner Beliebigkeit, faktisch untersagt“. An die Stelle von Argumentation und Analyse seien „wechselseitige Diffamierung“10 sowie die „Kapitulation vor den analytischen Herausforderungen unserer Zeit“ getreten.11
  • Ein „postmoderner Kulturmarxismus“ gebe „mit der Selbstverleugnung des Eigenen und einer ­behaupteten Gleichwertigkeit aller Kulturen die eigene Kultur und damit nicht weniger als Säkularität und Liberalität der Beliebigkeit preis“. „Ökologische Ängste“ hätten „apokalyptische Bewegungen“ hervorgebracht, „deren einseitige Fixierung auf den Klimawandel die Hauptaufgabe der Politik verkennt, nämlich ökologische, ökonomische, soziale, kulturelle und auch noch psychologische Perspektiven gleichzeitig im Blick zu haben, um dann den Ausgleich zwischen ihnen anzustreben“.12

Im Rahmen der „Narrative von Globalisierung und Universalisierung“ denkende politische Eliten seien außerdem unfähig dazu, die religiösen, ethnischen und kulturellen Dynamiken zu verstehen, die das Geschehen in weiten Teilen der Welt, etwa in den Konflikträumen an der Peripherie Europas, prägten. Dies führe regelmäßig zu unzutreffenden Lagebeurteilungen und außen- und sicherheitpolitischen Fehlentscheidungen.13 Dazu gehörten auch die kontraproduktiven, gescheiterten westlichen Interventionen im Mittleren Osten und in Afghanistan sowie „irreale Hoffnungen auf Gemeinsamkeit, Weltethos und universelle Menschenrechte“. In „künftigen interkulturellen und interreligiösen Lernprozessen“ werde „viel mehr Realismus gefordert sein, vor allem mehr Sinn für die tragischen Inkompatibilitäten und damit auch für die notwendigen Grenzen zwischen den Kulturen“.14

Der Beitrag der christlichen Soziallehre zur Selbstbehauptung Europas

Utopische Eine-Welt-Ideologie und regressiver Nationalismus hätten die gegenwärtige Lage entweder hervorgebracht oder sich als unfähig dazu erwiesen, sie zu bewältigen. Sie seien daher als Grundlagen europäischer Selbstbehauptung ungeeignet.15

Theisen formuliert als Antwort darauf einen auf der christlichen Soziallehre beruhenden Ansatz, der so wie in früheren Krisen eine lagegerechte Synthese verschiedener belastbarer politischer Ansätzen schaffen und dabei auf „linke und rechte, auf ökologische, liberale und konservative Ideen zurückgreifen“ könne:

  • „Kultureller Konservatismus, wirtschaftlicher Liberalismus, Autorität im Rechtsstaat und eine fördernde und fordernde Sozialstaatlichkeit“ sollten nicht als „Gegensätze, sondern Gegenseitigkeiten“ verstanden werden. Ein „sozialer Kapitalismus“ könne „Globalität mit dem Nationalstaat, Liberalität mit Ordnung, Offenheit mit Begrenzung verbinden“. Das Ziel dieser Synthese müsse „die Neuordnung der Freiheit“ sein, „jenseits von Atomisierung und Globalismus, mithilfe von traditionellen Gemeinschaften, von Nation und Religion“.16
  • Es gebe „Vorteile der Vernetzungen“, etwa das internationale Recht sowie Wohlstandsgewinne. Daher seien „Mittelwege zwischen utopischem Globalismus und regressivem Partikularismus“ sowie eine „wehrhafte Synthese von Offenheit und Selbstbehauptung“ erforderlich, die nur auf europäischer Ebene verwirklicht werden könnten.

Erneuerte Volksparteien könnten auf diese Synthese zurückgreifen, um der zunehmenden politischen Polarisierung in Europa entgegenzuwirken und neue Wege jenseits von Globalismus und Nationalismus aufzuzeigen, so wie sie in früheren Zeiten der Verwerfung durch das Konzept der sozialen Marktwirtschaft Wege „zwischen kapitalistischem Dschungel und sozialistischem Zoo“ gefunden hätten:17

„Bürger kommt von Burg. Die bürgerliche Mitte erwartet von ihren Staaten vor allem Schutz. Insofern war die mal neoliberal, mal humanitär motivierte Entgrenzung Europas gegen die bürgerliche Mitte gerichtet, die heute in und zwischen den ehemals bürgerlichen Parteien neu aufgebaut werden muss.“18

Dem „Verlust der Mitte“ sei „der Verlust einer offenen Debattenkultur“ vorausgegangen, welche die größte Stärke freiheitlicher Gesellschaften darstelle. Diese Debattentultur gelte es zunächst „von neuem aufzubauen“.19 Die Freiheit Europas zu bewahren, erfordere es zudem, die „neurotische Feindschaft gegen das Eigene“ (Joachim Gauck) durch „eine Kultur der Wertschätzung des Eigenen abzulösen“. Dem „Paradigma der Selbstbehauptung“ würden „sich sowohl die ideologisierte Weltoffenheit als auch ein regressiver Nationalismus und Separatismus beugen müssen“.20

Europa als globaler Machtfaktor

Die Europäer müssten sich außerdem entscheiden, ob sie in einer „multipolaren Weltordnung Objekte anderer Machtpole sein oder ob sie einen eigenen Machtpol bilden wollen“.21 Das zunehmend fragmentierte Europa drohe, „zum Spielball der Mächte“ zu werden. Die Europäische Union sei angesichts ihrer politischen Handlungsunfähigkeit „nur noch ein Objekt der Weltmächte“. In der Frage der Bekämpfung von irregulärer Migration sei sie „sogar nur noch Objekt der mittleren Macht Türkei“, während sie zugleich die Selbstbehauptung der Nationalstaaten Europas behindere, was den Zerfall der EU eingeleitet habe, der durch den Austritt Großbritanniens offensichtlich geworden sei.

Ein Europa, das sich global behaupten wolle müsse sich auf „handlungs- als auch kooperationsfähige Nationalstaaten“ stützen22, nach dem „Modell von locker gefügten Imperien“ föderal gestaltet sein und „den Nationen maximale Autonomie und Vielfalt gewähren“, während es die Interessen seiner Nationen nach außen sichert.23 In einem solchen Europa seien die Nationalstaaten etwa in Fragen der inneren Sicherheit souverän, während sie bei der Abwehr äußerer Bedrohungen zusammenarbeiteten und in wirtschaftlichen Fragen ein Mindestmaß an Autarkie sicherstellten, etwa durch den Aufbau strategischer Schlüsselindustrien in Bereichen wie Telekommunikation und IT.

Quellen

  1. Heinz Theisen: „Die EU muss sich dringend wandeln, um zu überleben“, Neue Zürcher Zeitung, 18.06.2019.
  2. Heinz Theisen: „Warum Liberale heute konservativ sein sollten“, Neue Zürcher Zeitung, 03.12.2019.
  3. Heinz Theisen: „Die Grenzen universalistischer Grenzenlosigkeit“, Neue Zürcher Zeitung, 16.01.2019.
  4. Heinz Theisen: „Die EU muss sich dringend wandeln, um zu überleben“, Neue Zürcher Zeitung, 18.06.2019.
  5. Heinz Theisen: „Ein Europa, das schützt“, Die Tagespost, 05.03.2020.
  6. Heinz Theisen: „Warum Liberale heute konservativ sein sollten“, Neue Zürcher Zeitung, 03.12.2019.
  7. Heinz Theisen: „Die EU muss sich dringend wandeln, um zu überleben“, Neue Zürcher Zeitung, 18.06.2019.
  8. Heinz Theisen: „Die Globalisierung lässt auch Ideologien alt aussehen“, Neue Zürcher Zeitung, 25.11.2017.
  9. Heinz Theisen: „Die Grenzen der offenen Gesellschaft“, Der Tagesspiegel, 25.06.2017.
  10. Heinz Theisen: „Die EU muss sich dringend wandeln, um zu überleben“, Neue Zürcher Zeitung, 18.06.2019.
  11. Theisen 2020.
  12. Heinz Theisen: „Warum Liberale heute konservativ sein sollten“, Neue Zürcher Zeitung, 03.12.2019.
  13. Heinz Theisen: „Strategieunfähiger Westen“, Neue Zürcher Zeitung, 03.02.2018.
  14. Heinz Theisen: „Interkulturelles Lernen in der neuen Weltunordnung“, Neue Zürcher Zeitung, 09.08.2018.
  15. Heinz Theisen: „Die EU muss sich dringend wandeln, um zu überleben“, Neue Zürcher Zeitung, 18.06.2019.
  16. Heinz Theisen: „Warum Liberale heute konservativ sein sollten“, Neue Zürcher Zeitung, 03.12.2019.
  17. Heinz Theisen: „Die Grenzen universalistischer Grenzenlosigkeit“, Neue Zürcher Zeitung, 16.01.2019.
  18. Theisen 2020.
  19. Heinz Theisen: „Warum Liberale heute konservativ sein sollten“, Neue Zürcher Zeitung, 03.12.2019.
  20. Theisen 2020.
  21. Heinz Theisen: „Die EU muss sich dringend wandeln, um zu überleben“, Neue Zürcher Zeitung, 18.06.2019.
  22. Theisen 2020.
  23. Heinz Theisen: „Die Grenzen universalistischer Grenzenlosigkeit“, Neue Zürcher Zeitung, 16.01.2019.