Prof. Dr. Heinz Theisen

Politikwissenschaftler

Alternativen für Europa

Veröffentlicht in: Mut. Zeitschrift für Kultur, Politik und Geschichte, 7/8 2013      Druckversion

Seit dem Vertrag von Maastricht geht es in der Europäischen Union weniger um Integration als um Vereinheitlichung, die man auch als Sozialisierung beschreiben könnte. In diesem Zusammenfallen von Einheits- und Gleichheitsvisionen und der mit ihnen verbundenen Ideologien liegt der tiefere Grund für die behauptete „Alternativlosigkeit“ der Rettungsschirme, letztlich auch für die überdehnten Ziele einer immer tieferen und größeren Vergemeinschaftung Europas. Beide Strategien treiben einen Verlust an Vielfalt, Subsidiarität, dezentraler Selbstbestimmung und letztlich an Demokratie voran, der heute das berechtigte Unbehagen an der Europäischen Union erzeugt. Der europäische Allparteienkonsens brachte jedenfalls beim Euro – wie wir heute mit Entsetzen bemerken – Nonsens hervor. Er klammerte mit einer sich selbst verstärkenden Eindimensionalität die notwendige Vorsicht, ausreichende Regulationen und Begrenzungen der Mitgliederzahlen aus.

Da das umgekehrte Extrem der reinen Nationalstaatlichkeit weder wünschenswert noch zweckmäßig ist, bleibt nur die Suche nach Alternativen im Rahmen der europäischen Idee, irgendwo zwischen „Einheit in der Vielfalt“ und „Vielfalt in der Einheit“. Dabei rächt es sich, dass in der Vergangenheit kaum über die Finalität der Union gestritten wurde und es an Maßstäben für eine Sinndebatte fehlt. Es bleibt bei den in der Tat alternativlosen Zielen „Frieden“ und „Wachstum“. Aber genauso selbstverständlich sollten auch die Demokratiefähigkeit und die Selbstbehauptungsfähigkeit des National- und Sozialstaates Ziele sein. Aus ihrer Gegenseitigkeit entstünde erst ein tragfähiger Integrationsprozess.

Verlust der Ausdifferenzierung

Auch die internationale Politik wird stärker vom Theorieimpuls von Niklas Luhmann Kenntnis nehmen müssen. Demzufolge ergeben sich die Ausdifferenzierungen aus den selbstreferentiellen Strukturen der Systeme wie Wissenschaft, Wirtschaft, Kirche und Politik. Wie systematisch die Union mit ihre Einheits- und Gleichheitswahn gegen die Eigengesetzlichkeiten von Funktionssystemen verstößt, kann man an der europaweiten Vereinheitlichung der Bildungssysteme erkennen. Die ökonomisch motivierte Kolonialisierung des Bildungswesens gefährdet neben der europäischen Vielfalt zugleich den Geist der ausdifferenzierten Funktionssysteme, deren Leistungsfähigkeit und Ankoppelungsfähigkeit auf ihrer Unterschiedlichkeit beruhen. Die europaweite Bachelorisierung des Hochschulwesens verringert ausgerechnet im Bildungssystem Eigenart und Eigensinn und damit jene Kreativität und Lernfähigkeit, aus der das Denken und Handeln in Alternativen erwächst. Die duale Berufsausbildung in Deutschland konnte nur zum Erfolg im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit beitragen, weil sie – ganz uneuropäisch - ihre Eigenart behalten hatte.

Die ökonomischen Verwerfungen in der Eurozone wären innerhalb eines kleineren Kerns in einem korrekturfähigen Bereich geblieben. Durch die Aufnahme südeuropäischer Weichwährungsländer wurde die Eurozone überdehnt. Die wirtschaftskulturellen Unterschiede zwischen den Kulturen Europas sind nicht in wenigen Jahren korrigierbar, sondern haben tiefgreifende geistesgeschichtliche und politische Ursachen. Der Westen ist nicht irgendeine Kultur, sondern eine in den letzten 500 Jahren gewachsene Synthese aus dem durch Reformation und Aufklärung hindurch gegangenen Westchristentum, von aufklärerisch-humanistischen Werten und von liberaldemokratischen Strukturen.

Es ist kein Zufall, dass im Rahmen der Euro-Zone es in den orthodox geprägten Ländern Griechenland und Zypern und innerhalb der gesamten EU in Rumänien und Bulgarien drunter und drüber geht. Die seit einem Jahrtausend in Südosteuropa dominierende orthodoxe Kultur hat weder Reformation noch Aufklärung und daher auch keine kooperative Trennung von Kirche und Staat und – im Gefolge dieser mangelnden Ausdifferenzierung keine zivilgesellschaftlichen Institutionen hervorgebracht. Die Clankulturen des Balkans sind das Gegenteil von ausdifferenzierten Gesellschaften, sie funktionieren nach den Eigengesetzlichkeiten von Gemeinschaften und nicht nach denen von Funktionssystemen. Hilfsgeldern der EU treiben die Selbsthilfe der Gemeinschaften, sprich: die Korruption voran.

Im orthodoxen Kulturraum herrschen entweder autoritäre Formen der Demokratie wie in der Ukraine und Russland oder Chaos wie in den Balkanländern. Durch die strukturellen Vernetzungen mit der EU drohen auch die noch besser regierten Staaten Mittel- und Nordeuropas in diese Zustände verstrickt zu werden. Die steuerzahlenden Bürger des Nordens den Staaten müssen heute den Staaten aushelfen, deren Bürger es mit den Steuerzahlungen nicht so ernst nehmen brauchen. Dies wird auf Dauer nicht vermittelbar sein, und die innereuropäische Solidarität mangels Gegenseitigkeit beschädigen, wenn nicht zerstören. Und wenn in der Eurokrise selbst das entlegene Zypern mit einem Anteil von 0,2 Prozent am europäischen Bruttozialprodukt als ein systemrelevant gilt, ist wohl eher Verstrickung als Vernetzung gegeben.

Wie war es möglich?

Es hat ja nicht an kritischen Stimmen gefehlt. Ralf Dahrendorf analysierte schon 1995: „Die Währungsunion ist ein großer Irrtum, ein abenteuerliches, waghalsiges und verfehltes Ziel, das Europa nicht eint, sondern spaltet.“ Aber die kurzfristigen Vorteile des Euros waren für alle zu angenehm, als das sie an langfristige Probleme denken mochten. Der niedrige Zins für alle Euroländer erlaubte den Bürgern in den Südländern haltlosen Konsum, deren Staaten hohe Investitionen und den Unternehmen im Norden hohe Exportquoten – alles ohne Rücksicht auf langfristige Tragfähigkeit. Diese gegenseitige Korruption ging auf Kosten der Nachhaltigkeit und damit nachfolgender Generation. Die Bewahrung historisch gewachsener, sozialer und wirtschaftskultureller Unterschiede wäre ein passendes Thema für Konservative gewesen. Diese gelten aber längst selbst als „Effizienzhindernisse“ und werden aus allen Diskursen durch die Populismuskeule verdrängt.

Die Wirtschaftswissenschaftler sind immerhin zweier Meinungen. Große Teile von ihnen analysieren die Eurokrise entweder als „neoliberales Marktversagen“ oder umgekehrt als Ausdruck „sozialstaatlicher Übertreibungen“, die zur Überschuldung und mangelnden Wettbewerbsfähigkeit geführt habe. Diese jeweilige Einseitigkeit verweist auf die Unterkomplexität einer überspezialisierten und übermathematisierten Wissenschaft, die sich kein Gesamtbild der Realität macht. Die gegenseitige Ergänzung von Staat und Markt in der Sozialen Markwirtschaft droht - da unverstanden - in gegenseitiges Versagen umzuschlagen.

Die Schuld an dem Eurodesaster einer drohenden Stagflation, welches die Schuldenländer Südeuropas in die Deflation geführt hat und die Gläubigerländer aller Wahrscheinlichkeit in die Inflationierung führen wird, verteilt sich auf Markt und Staat, auf Liberale und Linke. Ergänzt wurden beide Theorien durch die Selbstbehauptungstheorie in der Globalisierung. „Glühende Europäer“ wie Jürgen Habermas oder Ulrich Beck merken nicht, daß sie glühende Nationalisten auf einer höheren Ebene sind. Sie wollen nicht wahrhaben, daß ihre Forderungen nach nahezu unbegrenzter europäischer Solidarität nur aufgrund der allenfalls halbdemokratischen Strukturen der EU angedacht werden können. Die von ihnen geforderte deutsche Dauerbürgschaft mittels Eurobonds würde allerdings, das Bundesverfassungsgericht hat hier den Riegel davor geschoben, den Rahmen unserer Verfassung sprengen.

Das frivole Experiment des Euros ist für Historiker rational schwer erklärbar. Es war in der Geschichte noch nie gut gegangen, Staats- und Währungsraum zu trennen. Dass dieses Wagnis gegen alle Erfahrung und ohne Not eingegangen wurde, läßt sich neben den Wirren der deutschen Vereinigung nur aus der seltsamen Ergänzung von Neoliberalismus und Sozialdemokratismus als der vorherrschenden Ideologien jener Zeit erklären. Für Neoliberale war der Euro verlockend, weil dann Abwertungen innerhalb der Eurozone nicht mehr möglich sind und auftretende Ungleichgewichte durch Sparmaßnahmen und Lohnverzicht aufgefangen werden müssen.

Rot-grüne Geister sind wiederum schwärmerische Internationalisten. Für sie ist jede Form von internationaler Angleichung und Gemeinsamkeit eine Form der Solidarität, wobei sie übersehen, daß diese nur nachhaltig sein kann, wenn sie auf Gegenseitigkeit beruht. Ihre Europavision entspricht der von einer Gesamtschule, wo die Stärkeren die Schwächeren mitziehen sollen. Die Flucht nach vorn zu noch mehr Hilfe und noch mehr Europa schützt einstweilen vor der Einsicht, daß es sich sowohl bei den Gesamtschulen als auch in der Euro-Zone umgekehrt verhält - die Schwächeren ziehen die Stärkeren herab. Mit der Aufgabe des „No-bail-out“ 2010 wurde die Gelegenheit für den Auszug Griechenlands und anderer ungeeigneter Mitglieder im Sinne einer Kernunion vertan.

Die stattdessen eingeleitete Banken-, Fiskal-, Haftungs- und Transferunion sollen die fehlende Einheitlichkeit von Staats- und Währungsraum nachholen und das Projekt Europa durch eine besondere „ List der Geschichte“ vollenden. Demokratische Defizite werden zugunsten der Handlungsfähigkeit im europäischen Rahmen in Kauf genommen. Auch der politischen Rechten gilt fälschlicherweise „größer“ als „besser“. Es sind aber nicht China und Indonesien, in denen besonders gut regiert wird und es den Menschen besonders gut geht, sondern Singapur und die Schweiz. Globalisierung bedeutet im wesentlichen Wettbewerb und diesen besteht man weniger durch Größe als durch Flexibilität und Kreativität, durch ein Denken und Handeln in Alternativen.

Die große Lernverweigerung

Die Unfähigkeit, aus Fehlern zu lernen, ist schon vielen politischen Großgebilden, wie zuletzt der Sowjetunion, zum Verhängnis geworden. Sie beginnt mit der behaupteten Alternativlosigkeit und resultiert vor allem aus dem gegenseitigen Interesse an der Beibehaltung des einmal gewählten Kurses. Alles andere wäre auch für die Opposition kein Gewinn, sondern ein Eingeständnis eigener Irrtümer. Diese Verdrängung führt zur Bemäntelung des Problems und einer gesteigerten Verlängerung des Irrtums. Die panische Flucht nach vorn in immer neue Rettungsaktionen zahlt jeden Preis, auch den des offenen Rechtsbruchs. Damit wird die Glaubwürdigkeit der Union, die im Wesenskern eine Rechtsgemeinschaft ist, massiv beschädigt.

Alternativlosigkeit gilt nur unter der Prämisse, daß der Euro in jedem Fall gerettet werden muß. Diese Prämisse selbst wurde zu wenig hinterfragt. Ein kritischer Diskurs, mithin die wesentliche Stärke der Demokratie, kommt nicht mehr zur Geltung. Komplizen bei der Allparteienverleugnung sind die öffentlich rechtlichen Fernsehanstalten, deren nach Parteienproporz besetzte Fernsehräte für journalistische Alternativlosigkeit sorgen. Anders sind die Zustimmungsraten zum Euro in Deutschland nach drei Jahren Rettungspolitik nicht zu erklären. Die eindimensionale Wahrnehmung kann nur noch von außen, von nichtetablierten Kräften aufgebrochen werden, so dass das Entstehen von Alternativparteien eine unausweichliche und demokratisch wünschenswerte Konsequenz ist. Ungeachtet ihrer Erfolgsaussichten sind sie schon für die Wiedergewinnung der demokratischen Konfliktkultur notwendig.

Eine ausdifferenzierte Union

Wenn die Rettungsschirme nach und nach abgerufen werden sollten, womöglich auch von den großen südeuropäischen Staaten und von Frankreich, dürfte nur noch Inflationierung weiter helfen. Die Eurokrise wird in jedem Fall, ob als Haftungs- und Transferunion oder im Wege einer Euro-Ablösung unendlich teuer. Die angstvoll beschworene Aufwertung der DM hätte Exportnachteile, allerdings auch Importvorteile. Eine Dauersubventionierung des deutschen Exports durch deutsche Steuerzahler ist nicht nachhaltig.

Der frühe Euro-Warner Wilhelm Hankel schlägt die Einführung von Parallelwährungen zunächst in den südeuropäischen Ländern vor, die dann schrittweise abwerten und ihre Produkte darüber verbilligen könnten. Der gleitende Ausstieg zunächst der schwächsten Länder ist schon deshalb notwendig, um zukünftige Erpressungen immer neuer Hilfskredite und Zahlungen im Wege der “Systemrelevanz“ vorzubeugen. Unmöglich ist dagegen die vorgeschlagene Aufteilung nach einem Nord-Euro und einem Süd-Euro, weil letzterer nur aus Defizitländern bestünde und kein Vertrauen auf den Finanzmärkten erhielte. Ein Ausscheiden der Weichwährungsländer könnte hingegen den Euro stärken. Der Ausstieg würde erleichtert durch eine Wechselkursunion, in der der Staat im Rahmen der eigenen nationalen Währung die Verantwortung für das Geld nach innen hätte, während er nach außen Bündnisse mit anderen Staaten zur Stabilisierung der Währung eingeht. Der Euro würde darüber wie einst der Ecu zur Abrechnungswährung.

Kein Friede wäre bedroht und niemand kann behaupten, dass Nichteuroländer wie Schweden, Tschechien und Großbritannien per se das schlechtere Los gezogen haben. Den Rückzug von der supranationalen Gemeinsamkeit zur Gegenseitigkeit in intergouvernementaler Strukturen, passt zur alten Vision eines „Europas der Vaterländer“ (Charles de Gaulle). Darin würde jedes Land seine wirtschaftskulturellen Traditionen vor übertriebener Angleichung schützen. Dieser Abschied vom Utopia der Einheit und Gemeinsamkeit zur realpolitischen Gegenseitigkeit liefe auf weniger Europa im Sinne von weniger Angleichung hinaus. Dies bedeutet dafür mehr Vielfalt, mehr Demokratie und mehr Handlungsfähigkeit.

Die vorgeschlagene konsequente Ausdifferenzierung von Handlungsebenen bedeutet, dass ein gemeinsamer Binnenmarkt noch lange keine gemeinsame Währung und auch keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik erfordert. So wichtig die globalen Entfaltungsmöglichkeiten für Wissenschaft, Technik und Marktwirtschaft sind, so umgrenzt muss der staatliche Sozialraum sein. Aus den Unterscheidungen der Funktionssysteme gehen Unterscheidungen zwischen den Räumen der Vergemeinschaftung und denen einer bloßen zwischenstaatlichen Kooperation hervor.

Die politische Hardware, die Macht des Westens und damit Europas geht zurück, aber seine Software ist weiter führend, seine Inhalte wie Freiheit, Individualismus und Wohlstand erfreuen sich weltweit zunehmender Beliebtheit. In der Staatenwelt kann Europa nicht viel Staat machen. Seine Stärken liegen in den zivilgesellschaftlichen Funktionssystemen, die eine Europäische Union nicht durch Vereinheitlichung schwächen, sondern durch Vielfalt und Ausdifferenzierung stärken sollte.

Mit der Metapher von den „mehreren Geschwindigkeiten“ in der Europäischen Union werden die Unterschiede Europas klein geredet. Klarer wäre schon die Metapher von den „abgestuften Gemeinsamkeiten“. Ersteres hieße, daß alle - nur nacheinander - in die gleiche Richtung laufen. Abgestufte Gemeinsamkeiten würden demgegenüber durchaus auch dauerhaft unterschiedliche Aufgaben mit unterschiedlichen Mitgliedern angehen. Austritts- und Ausschlussmöglichkeiten müssten - wie in allen freiheitlichen Vereinigungen – gegeben sein. Innerhalb einer konsequenten Mehrebenenpolitik dürfen willige und fähige Länder eigene institutionelle Wege gehen und sich auch vor vorzeitigen Beitrittswünschen schützen.

Ein Ausweg aus den Verstrickungen kann nur in Entflechtungen oder eben, in sozialwissenschaftlicher Terminologie, mittels Ausdifferenzierungen der Funktionssysteme gelingen. Ein frühes Modell dafür wurde ausgerechnet von Wolfgang Schäuble vorgeschlagen, der heute via Tranfer- und Haftungsunion die Sozialisierung der Schulden vorantreibt. Das von ihm vorgeschlagene Modell „Kernunion“ hatte ein „Europa der mehreren Geschwindigkeiten“ bewußt in Kauf genommen, die besseren Länder sollten voranschreiten.

Statt um Vereinheitlichung ginge es auch um die Einhaltung des in den EU-Verträgen beschworenen Subsidiaritätsprinzips im Verhältnis von Nationalstaaten und EU. Die angemessene Größe einer politischen Union kann nur in einem dynamischen Prozeß der Abgleichung von Funktionssystemen gefunden werden. So ist eine Zusammenarbeit bei der Einwanderungspolitik aufgrund der offenen Grenzen gefordert, in der Außenpolitik sind dagegen die historischen Voraussetzungen für eine enge Zusammenarbeit nicht gegeben. Letztere würde uns auf eine Weise in nachkoloniale Aktivitäten Frankeichs oder Englands verstricken wie wir über den Euro in die Nachlässigkeiten südeuropäischer Länder verstrickt wurden. Zudem bleibt für das nichtatomar bewaffnete Deutschland der Atomschirm der USA im Rahmen der Nato unverzichtbar.

Eine gemeinsame EU-Sicherheitspolitik ist nur bei Beschränkung auf die Grenzsicherung denkbar. Angesichts der Interventionen in Afghanistan oder Libyen wäre Selbstbegrenzung als Mittel der Selbstbehauptung zu entdecken. In der neuen multilateralen Weltunordnung können die Europäer nicht mehr als Weltpolizist auftreten, sie müssen sich selbst vor der vordringenden Unordnung schützen. Statt sich in erfolglose Kämpfe in fremde Kultursphären zu verstricken, müßte der Islamismus umso konsequenter an einem Vordringen nach Europa gehindert werden.

Auch die Grenzen innerhalb der EU sollen nicht einfach „auf“ oder „zu“ sein. Die Metapher von den „atmenden Grenzen“ wäre hier treffender. Die Einführung der Grenzfreiheit im bisherigen Schengen-Raum wäre generell zurückhaltender und selektiver zu handhaben. Bei offenkundigem Staatsversagen gegenüber Armutswanderungen und in der Kriminalitätsbekämpfung - wie derzeit im Falle Rumänien - sollte sie auch rückgängig gemacht werden können. Das in den EU-Verträgen solche nachträglichen Korrekturmechanismen fehlen, trägt zur mangelnden Lernfähigkeit der Union bei. Menschen wie Institutionen lernen am meisten aus Fehlern, so daß es untragbar ist, wenn ausgerechnet dieser Mechanismus außer Kraft gesetzt wird.

Zum Glück wäre für eine Ausdifferenzierung der Union längst eine strukturelle Basis vorhanden. Es fehlt aber an einem klaren Bekenntnis zu diesen sich bisher ungesteuert ausprägenden Differenzierungen. Die EU besteht längst - gewissermaßen sachwüchsig - aus einander partiell überlappenden Gemeinschaften, die nicht auf allen Gebieten zusammenarbeiten und in der sich unterschiedliche Funktions- und Handlungsebenen unterschiedlich entwickeln. Man kann dies auch „Föderalismus“ oder „Subsidiarität“ nennen, entscheidend ist, daß Vielfalt als wünschenswert und notwendig und nicht als Effizienzhindernis begriffen wird. Die Chance für eine neue Europapolitik zwischen „Einheit in der Vielfalt“ und „Vielfalt in der Einheit“ liegt in der bewussten Hinwendung zu den Paradigmen Vielfalt und Differenzierung.